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Revolutionäre Perspektiven für Lateinamerika

Bericht vom gemeinsamen Seminar von RIO und der FT-CI

Das Verhältnis der europäischen Linken zu Lateinamerika ist stark von Revolutionsromantik und auch von Eskapismus geprägt. Viele linke AktivistInnen machen eine Art Haddsch nach Lateinamerika – wobei ihr Mekka immer wieder den Ort wechselt: in den 80ern war es Nicaragua, in den 90ern Chiapas und in den letzten 10 Jahren war es Venezuela – je nach dem, ob die SandinistInnen, die ZapatistInnen oder die ChavistInnen gerade "in" waren.

Als MarxistInnen geht es uns bei der Diskussion über Lateinamerika jedoch keineswegs um Eskapismus, sondern darum, aus dem zugespitzten Klassenkampf in Lateinamerika Lehren für den Klassenkampf in Europa und weltweit zu ziehen.

Zum Beispiel kann der Kampf der ArbeiterInnen der argentinischen Keramik-Fabrik Zanon, die als Antwort auf eine drohende Werksschließung ihre Fabrik besetzten und unter ArbeiterInnenkontrolle zum Laufen brachten, ein Beispiel sein für viele ArbeiterInnen in Europa, die gerade von Entlassungen bedroht sind. Umgekehrt bietet das Scheitern der allermeisten Guerrilla-Bewegungen in Lateinamerika wichtige (negative) Lehren für jene Linke, die glauben, die Revolution durch bewaffnete Aktionen einer Minderheit vorantreiben zu können.

In diesem Sinn veranstalteten RIO und die Trotzkistische Fraktion (FT-CI) gemeinsam ein Seminar über revolutionäre Perspektiven für Lateinamerika am 19. und 20. Juni in Berlin, an dem insgesamt rund 40 Personen teilnahmen. In fünf Blöcken wurde sehr ausführlich über verschiedene Aspekte des Klassenkampfes in Lateinamerika diskutiert – manchmal sehr kontrovers, aber auch (fast) immer sehr solidarisch. Diese Diskussionen wollen wir hier kurz vorstellen.

Im ersten Block stellte Albert Olter, Aktivist von RIO aus Zürich, die Geschichte der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) dar. Obwohl sie in den 90er Jahren ein wichtiger Bezugspunkt für die internationale Linke war, argumentierte Bert, dass ihre autonomistische Strategie – "Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen" – letztendlich nicht zur Erfüllung ihrer Forderungen, sondern zur Isolation in ihren autonomen Gemeinden führte.

Chucho Kahl, Student der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko (UNAM) und Aktivist der LTS-CC (mexikanische Sektion der FT-CI), ging ausführlicher auf die Bedeutung der EZLN in Mexiko ein und berichtete, wie die ZapatistInnen sich Stück für Stück in den bürgerlichen Staat einbinden ließen, ihr politisches Programm verwässerten und schließlich viele ihrer Forderungen in den vom mexikanischen Parlament beschlossenen Gesetzen realisiert sahen.

Die autonome Strategie der zapatistischen Bewegung führt auch zur praktischen Ablehnung der nötigen Verbindung mit den Kämpfen der ArbeiterInnenklasse. So schwiegen sie angesichts des einjährigen Streiks an der UNAM oder des Aufstandes in Oaxaca im Jahr 2006. Beim Streik der ElektrikerInnen in diesem Jahr widersetzten sie sich sogar dem Kampf für eine Wiedereroberung der Gewerkschaft und die Demokratisierung selbiger. Somit weigern sie sich letztendlich, den Aufbau einer einheitlichen revolutionären Bewegung der Unterdrückten gegen den mexikanischen Staat mit aufzubauen.

Im zweiten Block wurde ein Dokumentarfilm über den Arbeitskampf bei der Lebensmittelfabrik Kraft-Terrabusi in Buenos Aires ("Los obreros/as que le dijeron no a Kraft-Terrabusi") zum ersten Mal mit deutschen Untertiteln gezeigt. Die rund 2.600 Beschäftigten der größten Lebensmittelfabrik des Landes konnten einen Kampf gegen 160 Entlassungen in einen politischen Konflikt von landesweiter Bedeutung verwandeln und damit zwei Drittel der Entlassungen auch zurückschlagen. Im Anschluss wurde auch ein älterer Dokumentarfilm über den Kampf der Zanon-ArbeiterInnen gezeigt, die ihre Fabrik unter ArbeiterInnenkontrolle, also ohne Chefs, seit mehr als acht Jahren am Laufen halten. Dazu gibt es jetzt eine neue Auflage der gemeinsamen RIO- und FT- Broschüre über die Erfahrung bei Zanon – ein RIO-Mitglied verteilte auch jene Keramikkugeln, die die Zanon-ArbeiterInnen als Zwillenmunition zur Verteidigung ihrer Fabrik einsetzen.

Im dritten Block gab es eine Debatte zwischen Wladek Flakin, Aktivist von RIO aus Berlin, und Malte Daniljuk, Redakteur des Internetportals "amerika21", über die aktuelle Situation in Venezuela. Malte präsentierte sehr ausführlich die Projekte der Chávez-Regierung, um die arme Bevölkerung durch den Aufbau von kommunalen Räten ins politische Leben hineinzuziehen und damit auch Parallelstrukturen zum korrupten bürgerlichen Staatsapparat aufzubauen.

Wladek argumentierte dagegen, dass Chávez' Projekt am besten mit populistischen Regierungen in verschiedenen Ländern Lateinamerikas im letzten Jahrhundert zu vergleichen sei, etwa mit der Regierung von Juan Perón in Argentinien. Solche Regierungen reden viel über Antiimperialismus und manchmal auch über Sozialismus, aber letztendlich stellen sie eine Form des Bonapartismus dar, mit dem ein Flügel der Bourgeoisie ein bisschen mehr Unabhängigkeit vom Imperialismus anstrebt.

Wladek berichtete von den Versuchen der Chávez-Regierung, die venezolanische ArbeiterInnenbewegung zu kontrollieren – und auch von Fällen heftiger Repression gegen ArbeiterInnen, die gegen den Willen der Regierung für ihre Rechte kämpfen. Als Fazit sagte Malte, dass die Situation in Venezuela "eher in eine positive Richtung" gehe, wogegen Wladek meinte, dass die politische Tätigkeit der ArbeiterInnenklasse Venezuelas erstickt werde, was für die weitere Entwicklung fatal sein wird.

Im vierten Block erklärte Jalava Hugo, Aktivist von RIO aus Kiel, die Geschichte der kubanischen Revolution von 1959. Obwohl die Guerrilla unter Fidel Castro ursprünglich ein bürgerlich-nationalistisches Programm hatte, war sie durch den Druck der USA gezwungen, den Kapitalismus auf der Insel abzuschaffen. Dadurch entstand ein degenerierter ArbeiterInnenstaat, der dem Sowjetstaat sehr ähnelte, obwohl beide auf sehr unterschiedlichen Wegen entstanden sind.

Guillermo Santos, Student aus Havanna von der FT-CI, berichtete über die aktuelle Stimmung unter der kubanischen Bevölkerung und von den Reformprojekten der Regierung von Raúl Castro, die insgesamt auf eine langsame und kontrollierte Wiedereinführung des Kapitalismus steuern. Er argumentierte, dass nur die kubanische ArbeiterInnenklasse die Errungenschaften der Revolution von 1959 gegen den US-Imperialismus, aber auch gegen die kubanische Bürokratie verteidigen könne. Aus der Diskussion wurde klar, dass diese Aufgabe nur von einer revolutionären Partei, die eine politische Revolution gegen das Castro-Regime anstrebt, bewerkstelligt werden kann.

Im fünften Block ging es um ein Panorama von Lateinamerika, das von Marcelo Torres, Aktivist der FT-CI aus Santiago, vorgestellt wurde. Der Zerfall der US-amerikanischen Hegemonie auf weltweiter Ebene eröffnet Möglichkeiten für die KapitalistInnenklassen Lateinamerikas, etwas eigenständiger vom "Nachbarn im Norden" zu werden – als Beispiel sieht man die stärkere Wirtschaft und die eigenständigere Außenpolitik Brasiliens in den letzten Jahren. Das, zusammen mit einer Reihe von Aufständen gegen die neoliberalen Maßnahmen des "Washington Konsensus", bilden den Hintergrund des Aufstiegs "linker" Regierungen in einer Reihe von lateinamerikanischen Ländern im letzten Jahrzehnt.

Das bestehende Abhängigkeitsverhältnis vor allem zum US-amerikanischen Imperialismus kann durch diese Regierungen jedoch nicht aufgelöst werden. Die Möglichkeiten solcher linksbürgerlichen Projekte stoßen an ihre Grenzen, was unter anderem durch den Putsch in Honduras oder die Wahl eines rechten Milliardärs zum Präsidenten Chiles deutlich wurde. Nur wenn die ArbeiterInnenklasse eine eigene Antwort, unabhängig von allen Flügeln der Bourgeoisie, anbietet, wird das falsche Versprechen der sogenannten progressiven Regierungen nach Emanzipation vom Imperialismus eingelöst werden.

RevolutionärInnen haben heute die Aufgabe, die Fusion des revolutionären Marxismus mit der proletarischen Avantgarde voranzutreiben. In der Diskussion nach dem Vortrag ging es in erster Linie darum, warum die lateinamerikanische Bourgeoisie nie fähig war und nie fähig sein wird, den Kontinent zu vereinigen, obwohl ihre PolitikerInnen – von Simon Bolivar über José Martí und Juan Perón bis Hugo Chávez – davon träumten und weiterhin träumen.

Vor diesem Hintergrund wurde auch aus einem Manifest der Vierten Internationale aus dem Jahr 1934 zitiert, das auch 75 Jahre später seht aktuell klingt: "Süd- und Mittelamerika können sich nur durch den Zusammenschluss aller ihrer Staaten zu einer mächtigen Föderation aus der Rückständigkeit und Sklaverei reißen. Aber nicht die nachhinkende südamerikanische Bourgeoisie, eine total käufliche Agentur des ausländischen Imperialismus, sondern das junge südamerikanische Proletariat, der ausgewählte Führer der unterdrückten Massen wird auf den Plan gerufen, diese Aufgabe zu lösen. Die Losung für den Kampf gegen Gewalt und Intrigen des Weltimperialismus und gegen das blutige Werk der einheimischen Kompradorencliquen lautet daher: Die Vereinigten Sowjetstaaten Süd- und Mittelamerikas."

Wir bedanken uns bei allen, die zum Seminar gekommen sind, und werden mit den Lehren des Klassenkampfes in Lateinamerika auch in Europa für eine sozialistische Revolution eintreten. Wir freuen uns, dass wir marxistische Analysen von Lateinamerika mit AktivistInnen aus verschiedenen Backgrounds diskutieren konnten.

//von Wladek Flakin (RIO), Antje Berlinger (FT-CI) und Marcelo Torres (FT-CI)
//22. Juni 2010


Bilder vom Seminar auf Flickr

Mehr Infos zu Lateinamerika

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