Protesthauptstadt

30.000 Menschen beim Berliner Bildungsstreik

"Das zeigt, daß diese Gesellschaft doch nicht tot ist", meint Carmen, Studentin der Politikwissenschaften an der FU Berlin, als sie auf die Menschenmenge vor der Humboldt-Universität schaut. "Es zeigt, daß man doch noch etwas bewegen kann." Die Straße Unter den Linden und der Bebelplatz waren am Mittwoch mit SchülerInnen, Studierenden und auch GewerkschafterInnen gut gefüllt, als die Demonstration im Rahmen des bundesweiten Bildungsstreiks zu ihrer Abschlußkundgebung eintraf.

Die OrganisatorInnen haben rund 27.000 TeilnehmerInnne gezählt, die Polizei lediglich 12.000. Aber auch die Zahl vom Pressebüro des Bildungsstreikbündnisses kommt vielen AktivistInnen sehr niedrig vor: auf der Demo hieß es immer wieder von den Lautiwagen, dass wir 40.000 waren, und viele DemonstrantInnen schätzten die TeilnehmerInnenzahl auf 30.000, 40.000 oder 50.000. "Diese Demo ist deutlich größer als die Krisendemo am 28. März", meinte Stefan Neumann, ein Student der Technischen Universität. Damals waren in Berlin 30 000 Menschen unter dem Motto Wir zahlen nicht für eure Krise auf die Straße gegangen.

Frühmorgens starteten die ersten Mobilisierungsaktionen: ab acht Uhr gab es kleine Demos durch die Bezirke, um SchülerInnen abzuholen und schließlich mit S- oder U-Bahn zum Roten Rathaus zu fahren. "Ich muß viel früher aufstehen, wenn wir streiken, als wenn wir zur Schule gehen", meinte scherzhaft Benni vom SchülerInnenbündnis schulaction. Solche Demos fanden von der Primo-Levi-Oberschule Weißensee durch Pankow und Prenzlauer Berg oder von der Albert-Einstein- Schule durch Neukölln statt. Dazu gab es auch Protestfrühstück in verschiedenen Fakultäten sowie auch in der Berliner Ringbahn.

In den vergangenen Tagen hatten mehrere tausend Studierende an Vollversammlungen an den Berliner Universitäten teilgenommen. Diese trugen westlichen zur Mobilisierung bei und erhöhten die Motivation. Nach dem Plenum an der Freien Universität am Dienstag kam es zu einer stundenlangen Besetzung des Unipräsidiums, die die etwa 200 BesetzerInnen nach steigenden Drohungen von Hunderten angerückten Bereitschaftspolizisten schließlich um 18.30 Uhr beendeten.

Es geht los!

Der Platz vor dem Roten Rathaus war am Mittwoch schon vor dem Kundgebungsbeginn um 11 Uhr gut gefüllt. Der emeritierte Berliner Professor Peter Grottian eröffnete die Kundgebung mit einer Rede über die Studierenden im Iran. Diese gingen gerade zu Hunderttausenden auf die Straße, um mehr Demokratie zu fordern. Eine von ihm geforderte Schweigeminute wurde allerdings nur bedingt eingehalten.

Der Demozug, der vom Alexanderplatz in einem Kreis über den Hackeschen Markt, die Friedrichstraße und schließlich bis zur Humboldt-Universität führte, war vielfältig. "Geld für Bildung statt für Banken" war auf unzähligen Schildern zu lesen, aber auch "Ich brauche mehr Ritalin". Ein populärer Spruch – neben den scheinbar endlosen Electrotracks von den Lautsprecherwagen – lautete: "17. Juni: Widerstand/Bildungsstreik im ganzen Land!" Das wurde auch ergänzt durch "18. Juni: Überall/Banküberfall, Banküberfall!" Tatsächlich sollen heute bundesweit Banken symbolisch besetzt und "Rettungspakete für die Bildung" gefordert werden. Treffpunkt für diese Aktion in Berlin ist vor Hypo Real Estate unweit der Gedächtniskirche.

Lautsprecherwagen stellten am gestrigen Tag verschiedene Streikbündnisse, aber auch die Linksjugend-Solid und die Gewerkschaften (ihr Wagen war mit Fahnen der GEW, von ver.di und der IG Metall bestückt). Der Gewerkschaftsblock, der ganz am Ende der Demo lief – wirklich direkt vor den hinterherfahrenden Bullenwannen –, fiel mit maximal 100 TeilnehmerInnen eher klein aus. Zwar waren auch Gewerkschaftsfahnen durch die Demo zerstreut, aber insgesamt blieb die große Mobilisierung von Berliner LehrerInnen und Kita-Beschäftigten zum Bildungsstreik, von der verschiedene GewerkschaftsfunktionärInnen in den letzten Wochen immer wieder gesprochen hatten, aus. Auf der einen Seite haben diese FunktionärInnen kein wirkliches Interesse an einer Mobilisierung ihrer Mitgliedern gemeinsam mit Schülis und Studis, denn eine solche Dynamik wäre für sie nur schwer kontrollierbar. Auf der anderen Seite gab es in den letzten Wochen noch weniger Bemühungen von Seiten der Bildungsstreik-AktivistInnen, laufende ArbeiterInnenproteste aktiv zu unterstützen.

So blieb die Perspektive der Zusammenführung von Bildungs- und ArbeiterInnenprotesten eine Angelegenheit von einzelnen (meist trotzkistischen) Gruppen. Es gab zwar einen großen antikapitalistischen Block, der den lautesten und kämpferischsten Block auf der Demo darstellte – aber dessen Antikapitalismus basierte auf wütender Ablehnung des Systems, ohne eine konkrete Perspektive der Überwindung, ohne eine aktive Intervention in die ArbeiterInnenklasse.

Keine Gewalt!

Im Gegensatz zum bundesweiten Schulstreik letzten November, wo die Polizei Schüler auf der Abschlußkundgebung brutal angegriffen hatte, verhielten sich die Sicherheitskräfte dieses Mal friedlich. Einzig der antikapitalistische Block wurde immer wieder von einem Polizeispalier begleitet. Eine Festnahme konnte vereitelt werden: Ein junger Demonstrant hatte sich auf die Statue vom Alten Fritz vor der Humboldt-Universität gesetzt und eine Fahne geschwenkt. Als er herunterkam, wollten ihn Beamte der berühmtberüchtigten 23. Einheit der Berliner Polizei festnehmen. "Durch das solidarische Verhalten von vielen umstehenden Studis konnte die Festnahme verhindert werden", erklärte Florian Wensdorf vom Antikapitalistischen Block. "Dann sind sie ziemlich durchgedreht und haben viele Menschen mit Pfefferspray besprüht, aber sie mußten sich zurückziehen, ohne irgend jemanden festgenommen zu haben."

Großen Applaus auf der Abschlußkundgebung gab es, als die Teilnehmerzahlen aus anderen Städten bekanntgegeben wurden. Fast eine Viertelmillion Menschen sind bei den bundesweiten Demonstrationen gezählt worden. Auch in Berlin werden die Erwartungen der Organisatoren weit übertroffen – mit 12.000 bis 15.000 Teilnehmern hatten sie gerechnet. "Es hat einfach Spaß gemacht", meinte Lala von der Bertha-von-Suttner-Oberschule. "Vor allem hat es mir das Gefühl gegeben, daß wir etwas verändern können."

//Wladek Flakin, Revo Berlin //17. Juni 2009 //junge Welt //Indymedia

Veranstaltungen

Vom Bildungsstreik zum Generalstreik!
Offene Diskussionsveranstaltung diesen Freitag (19.6.) um 18 Uhr im
Blauen Salon im Mehringhof, Gneisenaustr. 2a, U6/U7 Mehringdamm, Kreuzberg

Revocamp‘09: ein internationales Sommercamp für revolutionäre Jugendliche
2.-8. August 2009 in Liberec (CZ) – bereits zum siebten Mal
in der tschechischen Republik, www.revocamp.eu.tc

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