EnglishDeutschČeskyFrançaisItalianoBahasa Indonesia

Kampf gegen die Jugend

Die wirtschaftliche und kulturelle Rückständigkeit Russlands führte dazu, dass die Arbeiterräte, die die Oktoberrevolution organisiert hatten, der Staats- und Parteibürokratie unterlagen. In der Folge kam es in den 1930ern dazu, dass Hunderttausende KommunistInnen verfolgt und hingerichtet wurden. Oppositionelle KommunistInnen kämpften für die Wiederherstellung der Rätedemokratie. Die Sowjetjugend, unter dem Stalinismus massiv unterdrückt, war ihr zentraler Hoffnungsträger. Leo Trotzki schrieb...

Jede revolutionäre Partei findet ihre Stütze vor allem in der jungen Generation der aufsteigenden Klasse. Politische Altersschwäche äußert sich im Verlust der Fähigkeit, die Jugend um das eigene Banner zu scharen. Gewöhnlich sind die von der Szene abtretenden Parteien der bürgerlichen Demokratie gezwungen, entweder der Jugend der Revolution oder der des Faschismus zu weichen. Der Bolschewismus war in der Illegalität stets eine Partei von jungen Arbeitern. Die Menschewiki stützten sich auf die solideren Facharbeiter, die Oberschicht des Proletariats, brüsteten sich sehr damit und blickten auf die Bolschewiki von oben herab. Die späteren Ereignisse zeigten ihnen unbarmherzig ihren Fehler: im entscheidenden Augenblick riss die Jugend die reiferen Schichten und sogar die Alten mit sich.

Die revolutionäre Umwälzung gab den neuen Sowjetgenerationen einen grandiosen historischen Antrieb, riss sie mit einem Schlage aus den konservativen Daseinsformen heraus und offenbarte ihnen das große Geheimnis – das oberste Geheimnis der Dialektik – dass nichts auf der Welt unveränderlich ist und die Gesellschaft sich aus plastischen Materialien formt. Wie dumm ist doch im Lichte der Ereignisse unserer Epoche die Theorie von den unveränderlichen Rassentypen! Die Sowjetunion stellt einen grandiosen Tiegel dar, in dem der Charakter dutzender Völkerschaften umgeschmolzen wird. Die Mystik der „slawischen Seele“ scheidet wie Schlacke ab.

Doch der Antrieb, den die jungen Generationen erhielten, hat noch keine Auswirkung in einem entsprechenden historischen Werk gefunden. Freilich ist die Jugend sehr regsam auf dem Gebiet der Wirtschaft. In der UdSSR zählen die Arbeiter im Alter bis zu 23 Jahren sieben Millionen: 3.140.000 in der Industrie, 700.000 in den Eisenbahnen, 700.000 im Bauwesen. In den neuen Fabrikgiganten bilden die jungen Arbeiter rund die Hälfte der Belegschaft. In den Kolchosen arbeiten heute allein schon 1.200.000 Jungkommunisten. Hunderttausende von Komsomolmitgliedern1 wurden in den letzten Jahren im Bauwesen, in der Holzfällerei, in den Kohlenschächten, der Goldindustrie, zu Arbeiten in den arktischen Regionen, auf Sachalin oder am Amur mobilisiert; dort am Amur entsteht eine neue Stadt mit Namen Komsomolsk. Die junge Generation stellt die Stoßbrigadisten, die sich besonders auszeichnenden Arbeiter, die Stachanowisten, Werkmeister, unteren Verwalter. Die Jugend lernt, und ein bedeutender Teil mit Fleiß. Nicht minder regsam, eher noch mehr, ist sie auf dem Gebiet des Sports. In seinen waghalsigsten Formen wie dem Fallschirmspringen, oder den kriegerischsten wie dem Schießen. Die Unternehmungslustigen und Verwegenen begeben sich auf allerlei gefahrvolle Expeditionen.

„Der beste Teil unserer Jugend“, sagte kürzlich der bekannte Polarforscher Schmidt, „will dort arbeiten, wo ihn Schwierigkeiten erwarten“. So ist es ohne Zweifel auch. Aber auf allen Gebieten bleiben die nachrevolutionären Generationen noch unter Vormundschaft. Was sie und wie sie es zu tun haben, wird ihnen von oben her zugewiesen, Die Politik als höchste Kommandoform bleibt gänzlich in den Händen der sogenannten „alten Garde“. Und bei allen heißen oft schmeichelnden Aussprachen an die Jugend wachen die Alten scharf über ihr Monopol.

Engels, der sich die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft nicht ohne Absterben des Staates dachte, d.h. ohne Ersetzung aller Art Polizeiherrschaft durch die Selbstverwaltung der kultivierten Erzeuger und Verbraucher, teilte die Vollendung dieser Aufgabe der jungen Generation zu, „die in neuen, freien gesellschaftlichen Bedingungen aufwächst und in der Lage ist, den ganzen Staatsplunder ganz fortzuwerfen.“ Lenin fügt selbst hinzu: „jedes Staatswesen abzuschaffen, auch das demokratisch-republikanische...“ Folgendermaßen etwa zeichnete sich in Engels und Lenins Bewusstsein die Perspektive des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft: die Generation, die die Macht eroberte, die „alte Garde“, beginnt das Werk der Liquidierung des Staats, die nächste Generation vollendet es.

Wie steht es in Wirklichkeit? 43% der Bevölkerung der UdSSR sind nach der Oktoberumwälzung geboren. Nimmt man eine Altersgrenze von 23 Jahren, so ergibt sich, dass über 50% der Sowjetbürger sie nicht erreichen. Die größere Hälfte der Landesbevölkerung kennt folglich aus persönlicher Erinnerung kein anderes Regime als das der Sowjets. Aber diese neuen Generationen formen sich eben nicht in „freien gesellschaftlichen Bedingungen“, wie Engels es sich vorstellte, sondern unter dem unerträglichen und ständig wachsenden Druck der herrschenden Schicht, derselben, die der offiziellen Fiktion gemäß die große Umwälzung vollbrachte. In der Fabrik, im Kolchos, in der Kaserne, in der Universität, in der Schule, selbst im Kindergarten wenn nicht gar in den Krippen gilt als Haupttugend des Menschen Führertreue und unbedingter Gehorsam. Viele der pädagogischen Aphorismen und Vorschriften der letzten Zeit könnten von Goebbels geschrieben sein, wenn dieser sie nicht selbst in hohem Maße bei Stalins Mitarbeitern abgeschrieben hätte.

Die Schule und das gesellige Leben der Schüler sind ganz und gar von Formalismus und Heuchelei durchdrungen. Die Kinder haben gelernt, unzählige sterbenslangweilige Versammlungen zu veranstalten mit dem unvermeidlichen Ehrenpräsidium, mit Lobpreisungen der teuren Führer und den vorher auswendig gelernten, rechtgläubigen Debatten, bei denen man ganz wie die Erwachsenen eines sagt und etwas anderes dabei denkt. Die unschuldigsten Schülerzirkel, die versuchen, in der Wüste des Amtsgeistes sich eine Oase zu schaffen, werden wütend unterdrückt, Durch ihre Agentur träufelt die GPU in die sogenannte „sozialistische“ Schule das entsetzliche Gift der Petzerei und Verräterei ein. Die nachdenklichsten Pädagogen und KinderschriftsteIler können zuweilen trotz erzwungenem Optimismus angesichts dieses, das Schulmilieu ertötenden Geistes des Zwangs, der Falschheit und der Langeweile ihr Entsetzen nicht verbergen.

Da die jungen Generationen in ihrer Vergangenheit keine Klassenkampf- und Revolutionserfahrungen aufzuweisen haben, könnten sie zu selbständiger Teilnahme am Gesellschaftsleben des Landes nur inmitten einer Sowjetdemokratie, nur bei bewusster Verarbeitung der Erfahrung der Vergangenheit und der Lehren der Gegenwart heranreifen. Selbständige Charaktere und selbständiges Denken können sich ohne Kritik nicht entfalten. Indes ist der Sowjetjugend rundweg die elementarste Möglichkeit versagt, Gedanken auszutauschen, sich zu irren, eigene und fremde Fehler zu prüfen und zu verbessern. Alle Fragen einschließlich die sie selbst betreffenden, werden ohne sie entschieden. Sie hat nur auszuführen und lobzusingen. Auf jedes Wort der Kritik antwortet die Bürokratie mit Halsumdrehen. Alles irgendwie Hervorragende und Unbotmäßige unter der Jugend wird systematisch ausgemerzt, unterdrückt oder physisch vernichtet. Daraus erklärt sich auch die Tatsache, dass die Millionen und Abermillionen Jungkommunisten nicht eine einzige größere Gestalt hervorbrachten.

Die Jugend wirft sich auf Technik, Wissenschaft, Literatur, Sport oder Schachspiel und verdient sich so gleichsam die Sporen für kommende große Dinge. Auf all diesen Gebieten wetteifert sie mit der schlecht vorbereiteten alten Generation, hier und da sie ein- und überholend. Aber bei jeder Berührung mit der Politik verbrennt sie sich die Finger. Ihr bleiben somit drei Möglichkeiten: sich der Bürokratie einverleiben und Karriere machen; schweigend sich unter das Joch bücken und in der Wirtschaft, der Wissenschaft oder den kleinen Privatangelegenheiten aufgehen; schließlich in die Illegalität tauchen, um für die Zukunft kämpfen zu lernen und sich zu stählen. Der Weg der bürokratischen Karriere steht nur einer kleinen Minderheit offen. Am anderen Pol tritt eine kleine Minderheit in die Reihen der Opposition. Die mittlere Gruppe, d.h. die überwiegende Masse, ist ihrerseits äußerst ungleichartig. Unter der eisernen Presse spielen sich, wenn auch verborgene, so doch allerhöchstbedeutsame Prozesse ab, die in vielem für die Zukunft der Sowjetunion bestimmend sein werden.

Die asketischen Tendenzen der Bürgerkriegsepoche machten während der NEP2 epikureischeren, um nicht zu sagen genusssüchtigeren Stimmungen Platz. Der erste Fünfjahresplan wurde wieder eine Zeit des unfreiwilligen Asketismus, doch allein für die Massen und die Jugend: die herrschende Schicht hatte sich auf ihren Positionen persönlichen Wohlstands festzuschanzen vermocht. Der zweite Fünfjahresplan ist unbezweifelbar von einer scharfen Reaktion gegen den Asketismus gefärbt. Die Sorge um das eigene Gedeihen ergreift breite Bevölkerungsschichten, besonders die Jugend. Tatsache ist jedoch, dass auch in der jungen Sowjetgeneration Auskommen und Wohlstand nur für die dünne Schicht erreichbar sind, die sich über die Masse zu erheben vermag und sich so oder so der herrschenden Schicht einverleibt. Andererseits züchtet und siebt die Bürokratie bewusst die Apparatmenschen und Karrieristen.

„Der Sowjetjugend“, versicherte auf dem Komsomolkongress (April 1936) der Hauptberichterstatter, „sind Gewinndurst, spießige Beschränktheit, niedriger Egoismus unbekannt“. Diese Worte tönen wie eine Dissonanz neben der heute herrschenden Losung vom „behaglichen und schönen Leben“, neben den Akkordmethoden, Prämien und Orden. Der Sozialismus ist nicht asketisch, im Gegenteil dem Asketismus des Christentums wie überhaupt jeglicher Religion zutiefst feind, und nur dieser Welt, nur ihr allein zugetan. Aber der Sozialismus hat seine eigene Skala der irdischen Werte. Die menschliche Persönlichkeit beginnt für ihn nicht mit der Sorge um ein behagliches Dasein, sondern im Gegenteil beim Wegfall dieser Sorge. Jedoch noch keiner Generation war es gegeben, über ihren eigenen Kopf hinwegzuspringen. Die ganze Stachanowbewegung baut sich bislang auf den „niedrigen Egoismus“. Der Erfolgsmaßstab selbst: die Anzahl der verdienten Hosen und Krawatten, zeugt just von „spießiger Beschränktheit“. Mag sogar dies Stadium historisch unvermeidlich sein, doch muss man es sehen, wie es ist. Die Wiederherstellung der Marktverhältnisse ermöglicht ohne Zweifel eine bedeutende Steigerung des persönlichen Wohlstands. Dass die Sowjetjugend so sehr erpicht ist, Ingenieur zu werden, erklärt sich nicht so sehr aus der Verlockung des sozialistischen Aufbaus, als dadurch, dass Ingenieure viel mehr verdienen als Ärzte oder Lehrer. Wo sich derartige Tendenzen herausbilden inmitten geistiger Bedrückung und ideologischer Reaktion, bei bewusster Entfesselung der Streberinstinkte von oben her, da läuft durch die Bank die Anpflanzung „sozialistischer Kultur“ auf eine Erziehung im Geiste des extremsten antisozialen Egoismus hinaus.

Und dennoch wäre es eine grobe Verleumdung der Jugend, sie als ausschließlich oder auch nur vorwiegend durch persönliche Interessen beherrscht darzustellen. Nein, in ihrer Masse ist sie großzügig, empfänglich, unternehmungslustig. Karrierismus färbt nur ihre Oberfläche. In der Tiefe sind verschiedenartige, noch längst nicht ausgestaltete Tendenzen lebendig, auf einem Untergrund von Heroismus, der erst noch nach Verwendung sucht. Aus diesen Stimmungen nährt sich im besonderen der ganz neue Sowjetpatriotismus. Er ist zweifellos sehr tief, aufrichtig und dynamisch. Aber auch durch den Patriotismus zieht sich ein Riss, der die Jungen von den Alten trennt.

Für die jungen gesunden Lungen ist es unerträglich, die Luft der Heuchelei zu atmen, welche vom Thermidor3, d.h. von der Reaktion, die sich noch mit dem Gewand der Revolution zu schmücken gezwungen ist, nicht zu trennen ist. Das schreiende Missverhältnis zwischen den sozialistischen Plakaten und dem wirklichen Leben untergräbt das Vertrauen in die offiziellen Glaubensgrundsätze. Erhebliche Schichten von Jugendlichen tragen Geringschätzung gegenüber der Politik, Grobheit und Liederlichkeit zur Schau. In vielen, wahrscheinlich den meisten Fällen sind Gleichgültigkeit und Zynismus eine primitive Form von Unzufriedenheit und des geheimen Wunsches, auf eigenen Füßen zu stehen. Die Ausschlüsse aus dem Komsomol und der Partei, Verhaftungen und Verbannungen von Hunderttausenden jungen „Weißgardisten“ und „Opportunisten“ einerseits, „Bolschewiki-Leninisten“ andererseits, zeugen davon, dass die Quellen der bewussten politischen Opposition, der rechten wie der linken, nicht versiegen; im Gegenteil, in den letzten ein, zwei Jahren sprudelten sie mit neuer Kraft. Schließlich die Ungeduldigsten, Hitzigsten, Unausgeglichensten, in ihren Interessen oder Gefühlen Verletztesten sinnen auf terroristische Rache. Das etwa ist das Spektrum der politischen Stimmungen der Sowjetjugend.

Die Geschichte des individuellen Terrors in der UdSSR bezeichnet deutlich die Etappen der allgemeinen Entwicklung des Landes. In der Frühzeit der Sowjetmacht wurden terroristische Attentate von Weißen oder Sozialrevolutionären verübt, in der Atmosphäre des noch nicht beendeten Bürgerkriegs. Als die ehemals herrschenden Klassen die Hoffnung auf eine Restauration verloren hatten, verschwand auch der Terrorismus. Der Kulakenterror, dessen Nachklänge bis in die letzte Zeit hinein zu beobachten waren, war stets lokaler Natur und ergänzte den Partisanenkrieg gegen das Sowjetregime. Was den Terrorismus der jüngsten Zeit betrifft, so stützt er sich weder auf die alten herrschenden Klassen noch auf den Kulaken. Die Terroristen des letzten Aufgebots rekrutieren sich ausschließlich aus der Sowjetjugend, aus den Reihen des Komsomol und der Partei, oft sogar aus den Sprösslingen der herrschenden Schicht. Völlig außerstande, die Aufgaben zu lösen, die er sich selbst stellt, ist der individuelle Terror doch von überaus symptomatischer Bedeutung und bezeichnend für die Schärfe des Gegensatzes zwischen der Bürokratie und den breiten Volksmassen, insbesondere der Jugend.

Alles zusammen: wirtschaftliches Draufgängertum, Fallschirmsport, Polarexpeditionen, betonte Gleichgültigkeit, „Rowdytum“, terroristische Stimmungen und vereinzelte Terrorakte, bereitet eine Explosion der jungen Generation gegen die unerträgliche Vormundschaft der Alten vor. Der Krieg könnte gewiss den angesammelten Dämpfen der Unzufriedenheit zum Ventil dienen. Aber nicht lange. Die Jugend würde in kurzer Frist die nötige Kampftüchtigkeit und die ihr heute so mangelnde Autorität erlangen. Zugleich damit würde die Reputation der meisten „Alten“ nicht wieder gutzumachenden Schaden nehmen. Bestenfalls würde der Krieg der Bürokratie lediglich kurzen Aufschub gewähren; um so schärfer wird der politische Konflikt bei Kriegsende ausbrechen.

Es wäre natürlich zu einseitig, das politische Grundproblem der UdSSR auf das Generationenproblem zurückzuführen. Unter den Alten zählt die Bürokratie nicht wenig erklärte oder heimliche Gegner, wie es auch unter der Jugend Hunderttausende ausgemachter Bürokraten gibt. Doch gleich von welcher Seite die Attacke auf die Positionen der herrschenden Schicht kommen wird, von links oder rechts, die Angreifer werden ihre Hauptstreitkräfte unter der bedrückten, politisch rechtlosen und unzufriedenen Jugend anwerben. Die Bürokratie versteht das ausgezeichnet. Sie besitzt überhaupt eine feine Empfindungsgabe für alles, was ihre Herrscherstellung gefährden kann. Natürlich bemüht sie sich, zur rechten Zeit ihre Positionen zu festigen. Ihre Hauptschützengräben und Betonbefestigungen errichtet sie dabei eben gegen die junge Generation.

Im April 1936 tagte im Kreml wie bereits erwähnt der 10. Komsomolkongress. Niemand gab sich natürlich die Mühe zu erklären, warum entgegen den Statuten der Kongress volle fünf Jahre nicht einberufen worden war. Dafür stellte sich bald heraus, dass der sorgfältig ausgelesene und gesiebte Kongress diesmal ausschließlich tagte, um die Jugend politisch zu enteignen: nach dem neuen Statut ist der Komsomol sogar gesetzlich des Rechts beraubt, am Gesellschaftsleben des Landes teilzunehmen. Seine einzige Sphäre ist nunmehr: Aufklärung und kulturelle Erziehung. Der Generalsekretär des Komsomol erklärte im Auftrag von oben in seinem Bericht: „Wir müssen aufhören mit dem Geschwätz über Industrie- und Finanzplan, Unkostensenkung, Wirtschaftsberechnung, Aussaat und andere höchst wichtige Staatsaufgaben, als ob wir darüber entscheiden würden“. Das ganze Land könnte die letzten Worte nachsprechen: „Als ob wir darüber entschieden!“ Der freche Verweis: „Mit dem Geschwätz aufhören!“, der bei dem stramm gehorsamen Kongress gar keine Begeisterung auslöste, scheint um so verblüffender, als das Sowjetgesetz die politische Mündigkeit auf das 18. Lebensjahr festgesetzt hat, von welchem Alter an junge Männer und Frauen volles Wahlrecht haben, während die Altersgrenze beim Komsomol dem alten Statut gemäß 23 Jahre war, wobei faktisch ein ganzes Drittel der Organisationsmitglieder diese Grenze überschritten hatte. Der letzte Kongress nahm gleichzeitig zwei Reformen vor; er legalisierte die Beteiligung der alten Jahrgänge am Komsomol und erhöhte damit die Zahl der KomsomolwähIer, und nahm zugleich der gesamten Organisation das Recht, sich nicht nur in das Gebiet der allgemeinen Politik (davon kann schon gar keine Rede sein!), sondern auch in die laufenden Wirtschaftsfragen einzumischen. Die Aufhebung der früheren Altersgrenze war dadurch diktiert, dass der Übergang aus dem Komsomol in die Partei, der sich sonst fast automatisch vollzog, heute enorm erschwert ist. Der Entzug des letzten Rests, selbst des Scheins von politischen Rechten, hat das Bestreben zur Ursache, den Komsomol vollständig und endgültig der gereinigten Partei unterzuordnen. Beide einander deutlich widersprechenden Maßnahmen gehen dennoch auf ein und dieselbe Quelle zurück: die Furcht der Bürokratie vor der jungen Generation.

Die Berichterstatter, die nach ihren eigenen Worten direkte Aufträge Stalins ausführten – diese Warnungen sollten von vornherein selbst die bloße Möglichkeit von Debatten ausschließen – erläuterten das Ziel der Reform mit einer beinahe verblüffenden Offenheit: „Wir brauchen keine zweite Partei“. Dies Argument ließ durchblicken, dass nach Ansicht der herrschenden Spitze der Komsomol, wenn er nicht ein für allemal erwürgt wird, sich in eine zweite Partei zu verwandeln droht. Wie um deren mögliche Tendenzen zu umreißen, erklärte der Berichterstatter warnend: „Seinerzeit versuchte niemand anders als Trotzki, demagogisch mit der Jugend schäkernd, ihr den antileninistischen, antibolschewistischen Gedanken von der Notwendigkeit, eine zweite Partei zu schaffen, einzuimpfen“, usw. Die historische Anspielung des Berichterstatters enthält einen Anachronismus: in Wirklichkeit warnte Trotzki „seinerzeit“ nur, dass eine weitere Bürokratisierung des Regimes unvermeidlich zum Bruch mit der Jugend führen und die Gefahr einer zweiten Partei heraufbeschwören müsse. Doch gleichwohl: der Gang der Ereignisse hat die Warnung bekräftigt und sie damit zu einem Programm gemacht. Die entartete Partei übt nur noch auf die Karrieristen Anziehungskraft aus. Die ehrlichen und denkenden jungen Männer und Frauen muss es ekeln vor der byzantinischen Kriecherei, vor der falschen, Privilegien und Willkür deckenden Rhetorik, vor der Prahlerei der mittelmäßigen, sich gegenseitig beweihräuchernden Bürokraten, vor all diesen Marschällen, die noch keine Sterne am Himmel pflückten, sich dafür aber welche an alle Körperteile heften. Es handelt sich folglich nicht mehr um die „Gefahr“ einer zweiten Partei wie vor zwölf, dreizehn Jahren, sondern um ihre historische Notwendigkeit, als der einzigen Kraft, die imstande ist, die Sache der Oktoberrevolution weiterzutreiben. Die Änderung der Komsomolstatuten wird, sei sie auch durch Androhung neuer Polizeistrafen verstärkt, die politische Reifung der Jugend nicht aufhalten und ihren feindlichen Zusammenstoß mit der Bürokratie nicht verhüten.

Auf welche Seite wird sich die Jugend im Falle einer großen politischen Erschütterung schlagen? Um welches Banner wird sie sich scharen? Jetzt kann noch niemand auf diese Frage eine sichere Antwort geben, am wenigsten die Jugend selber. Widersprechende Tendenzen arbeiten an ihrem Bewusstsein. Letzten Endes wird die Selbstbestimmung ihrer Hauptmasse von den historischen weltbedeutenden Ereignissen abhängen: Krieg, neue Erfolge des Faschismus oder umgekehrt Sieg der proletarischen Revolution im Westen. Auf jeden Fall wird sich die Bürokratie überzeugen müssen, dass diese rechtlose Jugend ein historisches Geschoss von kolossaler Sprengkraft darstellt.

1894 antwortete das russische Selbstherrschertum durch den Mund des jungen Zaren Nikolaus II.4 den Semstwoabgeordneten5, die schüchtern träumten, des politischen Lebens teilhaftig zu werden, mit den berühmten Worten: „Unsinnige Träumereien!“. 1936 antwortete die Sowjetbürokratie auf die noch verworrenen Ansprüche der jungen Generation mit dem noch gröberen Anschnauzer: „Mit dem Geschwätz aufhören!“. Diese Worte werden ebenfalls in die Geschichte eingehen. Stalins Regime mag nicht weniger schwer dafür zahlen als jenes, an dessen Spitze Nikolaus II. stand.

 

Notizen...

1. Komsomol – Kommunistitscheski Soyus Molodjoschi – Kommunistischer Verband der Jugend, Jugendorganisation der KPdSU
2. NEP – die Neue Ökonomische Politik, die ab 1921 Privateigentum in gewissen Bereichen der Wirtschaft der Sowjetunion wieder erlaubte
3. Thermidor – der Monat im Kalendar der Französischen Revolution, in dem Robspierre von Reaktionären gestürzt wurde, benutzt von Trotzki als Analogie für die bürokratische Konterrevolution in der SU
4. Nikolaus II – der letzte Zar von Russland, der zwischen 1894 und 1917 herrschte und im Juli 1918 von der Roten Armee hingerichtet wurde
5. Semstwo – eine Form der ländlichen Verwaltung im Zarismus, die von Adligen beherrscht wurde und weitgehend bedeutungslos blieb

Quelle...

Erstmals Veröfentlicht: Kapitel 7 von Verratene Revolution, Lee-Verlag, 1936, Übersetzung: Walter Steen, alias Rudolf Klement
Abgeschrieben: http://www.marxists.org/deutsch/archiv
/trotzki/1936/verrev/kap07.htm#s2