Diese Seite ist ein Archiv und wird nicht mehr aktualisiert. Die neue Seite von RIO ist: www.klassegegenklasse.org


 

"Klassen-Kampf" in Berlin

8.000 SchülerInnen beim Berliner Schulstreik am 22. Mai

Rund 8.000 SchülerInnen verzichteten am Donnerstag auf ihren Unterricht und zogen vom Potsdamer Platz bis zum Alexanderplatz und anschließend zur Senatsverwaltung für Bildung. Der Protest richtete sich nicht nur gegen Unterrichtsausfall und Lehrermangel, sondern auch gegen die soziale Selektion im dreigliedrigen Schulsystem: "Die gesellschaftliche Ungerechtigkeit wird zementiert durch das gegliederte Schulsystem" rief Jenny Troost im Namen der Schülerinitiative "Bildungsblockaden einreißen!", die den Streik organisiert hatte.

Fast alle RednerInnen erklärten sich mit den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes der Hauptstadt solidarisch, die in den vergangenen Tagen mit Streiks ihren Forderungen nach Lohnerhöhungen Nachdruck verliehen haben. Auf mindestens drei verschiedenen Transparenten wurde nicht nur "Klassen-Kampf" in den Schulen sondern allgemein "Klassenkampf" gefordert.


"Klassenkampf" Nr. 1 - von REVOLUTION


"Klassenkampf" Nr. 2 - von der Primo-Levi-Oberschule


"Klassenkampf" Nr. 3 - von ???

Auch in Frankreich finden zur Zeit Proteste gegen Sparmaßnahmen im Bildungsbereich statt. Flora, eine französische Studentin, berichtete während der Demo von einem Lautiwagen über die wesentlich radikaleren Protestformen im Nachbarland, wo es regelmäßig zu Besetzungen von Bildungseinrichtungen komme.

Handgreiflichkeiten und Spontandemos

In verschiedenen Bezirken gab bereits am Morgen einige Spontandemos, mit denen versucht wurde, SchülerInnen aus ihren Schulen abzuholen. Eine Spontandemo, die von der Primo-Levi-Oberschule in Berlin-Weißensee losging, zog zu verschiedenen Schulen in Pankow und nahm rund 600 SchülerInnen mit.

In der Sophie-Scholl-Schule in Schöneberg kam es kurzzeitig zu Handgreiflichkeiten, als über 100 Jugendliche während der großen Pause die Schule verlassen wollten und vom Direktor daran gehindert wurden. Einige mußten im Hof über den Zaun klettern, bevor sie sich der Spontandemo anschließen konnten. "Schulfremde" – also Streikende von einer anderen Schule und AktivistInnen – haben mit kurzen Megafonansprachen im Schulhof die Mobilisierung unterstützt.

Am Ende sind rund 150 SchülerInnen von der Sophie-Scholl-Schule durch die Potsdamer Straße gezogen. Die Polizei kam nach etwa fünf Minuten, aber die SchülerInnen weigerten sich immer wieder, eine/n "Verantwortliche/n" für die Veranstaltung zu nennen. Sie antworteten: "Wir sind doch alle dafür verantwortlich!" Am Ende hat die Polizei den Protestzug begleitet, während die SchülerInnen immer wieder riefen: "Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Bildung klaut!"

Als sie bei der Auftaktkundgebung am Potsdamer Platz ankamen, waren über 5.000 SchülerInnen schon da. Im Verlauf der Demonstration wurden es schliesslich bis zu 8.000. Damit war die Demonstration größer als der zweite Berliner Schulstreik im April 2007, aber nicht ganz so groß wie der erste Streik im September 2006. Die OrganisatorInnen hatten zum Teil mit mehr TeilnehmerInnen gerechnet – manche mit bis zu 20.000! Aber: "Das Problem war, dass viele Lehrer richtig Druck gemacht haben", erklärte Felix (19) von der Primo-Levi-Oberschule in Pankow. So wurde berichtet, dass in verschiedenen Schulen Klausuren extra auf den Donnerstag verlegt worden seien, um SchülerInnen vom Streik abzuhalten.

StudentInnen und HauptschülerInnen

Auch AktivistInnen von den Unis kamen zu Wort. Stefan (20), der an der Freien Universität studiert, sprach auf der Auftaktkundgebung von Kürzungen und steigendem Leistungsdruck an der "exzellenten" FU. Er begrüßte gemeinsame Aktionen von SchülerInnen und Studierenden, aber ging noch weiter: "Um den Senat und die Bundesregierung wirklich unter Druck zu setzen, brauchen wir die Unterstützung der arbeitenden Bevölkerung. Wenn sie streikt, wird die ganze Stadt, das ganze Land lahmgelegt!"

Doch die Beteiligung von Studierenden war eher enttäuschend. Obwohl ein großer "Schul- und Unistreik" bzw. "Bildungsstreik" angesagt war, haben am Ende fast nur SchülerInnen demonstriert. Lange Zeit war an den Unis nicht klar, dass mehr als eine Schülerdemo geplant war, d.h. dass Studierende ebenfalls zum Streiken aufgerufen waren. Die studentische Vollversammlung an der FU vor drei Wochen hätte eine gute Gelegenheit sein können, um viele Studierenden für den Streik zu begeistern – es sind auch Anträge in diesem Sinne gestellt worden – aber die OrganisatorInnen der VV haben auf einen konkreten Aufruf verzichtet. Danach wurden zwar viele Plakate und Transparente an der FU und auch an der HU aufgehängt, aber anscheinend nicht genug vor Ort mobilisiert. Auch die Linkspartei-Hochschulgruppe "Die Linke.SDS" hat sich erst eine Woche vor dem Streik der Mobilisierung angeschlossen. Beim nächsten "Bildungsstreik" müssen linke AktivistInnen von den Unis von Anfang an in die Planung eingebunden werden.

Die höchste Beteiligung am Schulstreik gab es auf Gymnasien im Nordosten der Stadt. Die "Primo-Levi-Partisanen" (so ihre Schilder) stellten eine ziemliche Avantgarde da – "bestimmt drei Viertel der Transparente auf der Demo haben wir gemalt", so ein Aktivist der dortigen Politik-AG. Und die Primo-Levi-Transpis waren wirklich sehr schön...

Es gab aber auch die "Rütli-Guerilla": die entsprechenden Schilder wurden zwar auch von den Primo-Levi-Leuten gemalt, aber in der Tat waren auch viele Haupt- und RealschülerInnen unterwegs. Es ist sehr positiv, dass wir keine "reine Gymasiastenveranstaltung" hatten, denn diejenigen, die durch das dreigliedrige Bildungssystem am meisten benachteiligt werden, nämlich Jugendliche mit Migrationshintergrund und Jugendliche aus finanziell schwachen Familien, müssen im Kampf für bessere Bildung eine zentrale Rolle spielen. Natürlich gibt es noch große kulturelle Differenzen zwischen GymnasiastInnen und HauptschülerInnen – die frühe Selektion im deutschen Schulsystem führt dazu, dass es kaum Kontakte zwischen ihnen gibt – aber gerade der Aufbau einer kämpferischen Schülerbewegung bietet die Möglichkeit an, diese Kluft zu überwinden.

Der Streik und die Perspektiven

Der Streiktag soll aber nicht als Erfolg an sich, sondern als Auftakt für weitere Proteste gesehen werden. Verschiedene RednerInnen kündigten weitere Proteste für den Herbst an – für den "sehr wahrscheinlichen Fall", dass der Berliner Senat aus SPD und Linkspartei die Forderungen der SchülerInnen nicht umsetzt. In diesem Sinne gibt es am Sonntag eine Konferenz der Schülerinitiative, um weiter Proteste zu planen.

Die Resonanz in der Presse war wirklich gut. Der Tagesspiegel veröffentlichte z.B. ein Foto auf der Titelseite zusammen mit der Kurzmeldung, dass 8.000 SchülerInnen demonstriert hatten. Damit übernahmen sie die Zahl von den VeranstalterInnen, während die Polizei von lediglich 5.000 TeilnehmerInnen gesprochen hatte. Überraschenderweise veröffentlichte diese eher konservative Zeitung ein Kommentar, dass die Schülerproteste rechtfertigte und mit der Prophezeiung schloss: "Wenn die Politik ihre Hausaufgaben nicht macht, wird Berlin wohl häufiger Schulschwänzer auf der Straße erleben". Das bleibt doch zu hoffen!

Die Schülerinitiative "Bildungsblockaden einreißen!" setzte sich aber nicht nur aus aktiven SchülerInnen und der Landesschülervertretung zusammen – dabei waren auch eine Menge linksradikale Gruppen, eine richtige Buchstabensuppe einschließlich SAV, ARAB, SAS, GAM bzw. GAM-Jugend, die Linksjugend ['solid] von der Linkspartei und, die unabhängige Jugendorganisation REVOLUTION und auch viele mehr.

Entsprechend waren die Redebeiträge während der gesamten Demonstration kämpferisch und ausgesprochen antikapitalistisch – siehe unseren netten Jingle. In einer Stadt, wo Kürzungen im Bildungsbereich von der Partei "DIE LINKE" mitgetragen werden, sind politisch aktive Jugendliche besonders aufgeschlossen gegenüber der radikalen Linken. Die AktivistInnen von "Linksjugend ['solid]" haben mit ihrer besonderen Streikzeitung viel für den Streik mobilisiert – trotzdem würden wir uns wundern, wenn die Berliner SchülerInnen an einem Tag gegen die SPD-Linkspartei-Regierung streiken und am nächsten Tag in die Linkspartei-Jugendorganisation eintreten...

Die Strukturen, die im Vorfeld des Streiks zumindest an einigen Schulen entstanden sind (Streikkomitees, Politik-AGs, Aktionskomitees usw.) können weitergeführt werden. Nach dem letzten Streik sind solche Strukturen wieder zusammengebrochen – einerseits ist es logisch, dass ein Streikkomitee nach dem Streik auseinander driftet, aber anderseits kann daraus eine Politik-AG werden, die regelmässig Veranstaltungen organisiert und für die Rechte der SchülerInnen vor Ort eintritt. Vor allem mit der Perspektive eines bundesweiten Schulstreiks im Herbst ist es wichtig, dass sich die SchülerInnen der Basis dauerhaft organisieren.

Damit es aber nicht bei tausenden antikapitalistischen Phrasen bleibt, müssen wir uns auch aktiv an die Arbeiterbewegung wenden. Am Tag vor unserem Streik haben auch tausende Kita-ErzieherInnen in Berlin die Arbeit niedergelegt. Die von der GEW und ver.di organisierte Demo mit bis zu 4.000 TeilnehmerInnen startete in der Beuthstraße in Mitte (also genau dort, wo unsere Demo aufhörte).

Ein Aktivist von der Schülerinitiative hielt eine kurze Ansprache vor den Streikenden über die Notwendigkeit von gemeinsamen Kämpfen von LehrerInnen und SchülerInnen. Die Wut ist bei vielen LehrerInnen genauso groß wie bei SchülerInnen (deswegen haben einige LehrerInnen den Streik heimlich unterstützt, während die SchulleiterInnen dagegen wetterten). Aber es muss klar sein, dass die Gewerkschaftsbürokratie von GEW und ver.di nie auf die Idee kommen würde, die verschiedenen Streiks zusammenzuführen - das heißt, wir müssen selbst auf die Arbeiterbewegung zugehen und für diese Perspektive werben!

Die Rangeleien und das Ende

Die Stimmung auf der Demonstration war kämpferisch, obwohl die Mobilisierung viel Kraft gekostet hatte. Katalena (10) geht in die fünfte Klasse und war, zusammen mit ihrer Schwester, zum ersten Mal bei einer Demonstration. Sie würde es auch wieder tun, "aber vielleicht nicht so lang", wie sie meinte. Denn tatsächlich liefen wir fast drei Stunden in der heißen Sonne. Viele TeilnehmerInnen haben die Demonstration bereits am Alexanderplatz verlassen, so dass bei der Abschlusskundgebung nur noch 1.000 Leute anwesend waren.

Am Ende der Demonstration kam es zu Rangeleien mit der Polizei, weil diese den Weg zur Senatsverwaltung für Bildung in der Beuthstraße blockiert hatten. Die Polizei hat mindestens vier Jugendliche festgenommen und weitere mit Tritten und Schlägen verletzt. Die SchülerInnen wehrten sich mit einer Sitzblockade vor der Polizeikette.

Ein Aktivist erklärte vor dieser Menge per Megafon, dass Berliner PolizistInnen in den Tagen davor selbst in den Streik getreten waren, um bessere Löhne zu fordern, aber unseren Streik mit brutaler Gewalt beenden wollten. Das macht klar, dass die Polizei eben nicht für "Recht und Ordnung" steht, sondern immer die Interessen der Herrschenden schützt. Er schloss mit den Worten: "Wir müssen zurück in unsere Schulen gehen und uns organisieren, damit wir nächstes Mal zehnmal mehr werden. Mal sehen, ob sie uns dann noch aufhalten können!"

//von Wladek Flakin, Revo Berlin //24.5.2008 //Original auf Indymedia

//eine kürzere Version erschien in der jungen Welt am 23.5.2008

//Aufruf von REVOLUTION zum Schulstreik //Jingle

RIO • Revolutionäre Internationalistische Organisation • www.revolution.de.com • info[ät]revolution.de.com • (c)opyleft   

Diese Seite ist ein Archiv und wird nicht mehr aktualisiert. Die neue Seite von RIO ist: www.klassegegenklasse.org