„Mein Vater ist tot“
von Simon
Wir waren froh, dass es letzte Nacht nur in der Ferne heftiges Maschinengewehrfeuer gab und die Stadt nicht beschossen wurde. Am Himmel konnte man die ganze Nacht lang Leuchtraketen und israelische Flugzeuge sehen. Ich blieb mit Hassan, Idoa und einigen anderen lange auf. Wir aßen Wassermelonen und ich versuchte zu erklären, warum ich nicht an einen Gott glaube! Wir liefen sehr spät noch durch die Stadt, um nach den Panzern zu schauen, die am Stadtrand stehen. Das sind die Panzer, auf welche die Kinder tagsüber Steine werfen.
Am Tage gingen wir zum Kinder-Parlament, wo Kinder aus ganz Rafah hinkommen, um über Politik zu diskutieren und eine ‚Regierung‘ zu wählen. Sie sagen, dass es dieses Parlament gibt, um die politischen Führer von Morgen zu trainieren. Ich sah Hoffnung in ihren Augen, während sie Fragen stellten wie: „Wann wird die UN kommen und uns helfen?“ und „Wie kann die EU den Menschen in Palästina helfen?“ Ich stand auf und sagte zu ihnen, sie sollten nicht nach den westlichen Regierungen schauen, aber wohl nach den Menschen im Westen – im Osten, im Norden und im Süden –, die kommen, um ihnen zu helfen und neben ihnen zu kämpfen. Ein Mädchen, das kaum älter als acht gewesen ist, sang ein Lied über ihren Vater, welcher durch einen Hubschrauber-Angriff ums Leben kam, sie sang davon, wie sehr sie ihn vermisst.
Wir trafen den Organisator der Hamas für die Region Rafah. Das Treffen war eher unproduktiv, weil er uns darüber belog, wofür die Hamas steht und was sie will. Ich konnte ihn immerhin dazu bringen, einzugestehen, dass er einen islamistischen Staat in Palästina will. Das Treffen endete, bevor ich noch mehr erfahren konnte.
Heute trafen wir den Bezirksorganisator der Fatah. Er sprach wie ein echter Politiker. Ich stellte eine Menge Fragen über Fatahs Unterstützung des Ausverkaufs in Oslo – so viele, dass ein Typ der ISM zu uns sagte: „Lasst ihn in Ruhe.“ und „Respektiere die Führer des palästinensischen Volkes.“ Ob dieses Verschweigen der politischen Wahrheit hilft ...?!
Es sind die individuellen Geschichten, die du hörst – die toten Freunde, die Heimatlosen, die Hoffnungen auf ein besseres Leben, die schwangere Frau, der an einem Checkpoint eine MPi vor den Bauch gehalten wird; der Junge, der in der Nähe der ägyptischen Grenze erschossen wurde; die Kinder, die 24 Stunden am Tag Ausgangssperre haben – die Realität des täglichen Lebens in Rafah.
In diesem Land läuft so viel falsch, es gibt so viele Orte, wo jeden Tag „Märtyrer“ gemacht werden. Das wird ermöglicht durch die UNO, durch ihre Sanktionierung der Aufteilung Palästinas und ihr stilles Einverständnis der Besatzung. Wir spüren ein Gefühl der Scham, als wir Rafah verlassen. Wir lassen die Straßenkinder zurück, die „money, money“ zu unserem Taxi rufen. Wir lassen die weißen, von der UNO gespendeten Zelte zurück, aus denen Familien in die Leere starren. Wir lassen die Checkpoints und die Artillerie-Schüsse zurück. Wir lassen das Gefangenenlager des Gaza-Streifens und die Einschusslöcher im Damaskus-Tor zurück. Wir lassen das Internet Cafe im Nuisyrat Camp zurück, wo junge Männer vermutlich mit ihren Familien in der West Bank chatten, wohin sie der israelische Staat nicht lässt.
Heute verlassen wir den Gaza-Streifen, verlassen die Verwüstung, die letzte Nacht entstand, als israelische Flugzeuge einen Maschinenbetrieb zerstörten, welcher nur fünf Minuten zu Fuß vom ISM-Verein entfernt lag. Der sieben Meter tiefe Krater, umgeben von Trümmern und zerbrochenen Ziegeln war alles, was von dieser „Bomben-Fabrik“ übrig blieb.
Ein Palästinenser griff meinen Arm, als wir durch die Trümmer kletterten und hielt mir seine Faust entgegen. „Sie wollen uns bestrafen, sie wollen uns jetzt büßen lassen, den ganzen Gaza...“
Wir besuchten ein Haus in Khan Yunis, das tags zuvor zerstört worden war. Kein Palästinenser konnte sagen, warum. Als wir durch das Haus liefen, sah ich Kleidung an den Trümmern herunterhängen, den Schutt, der auf der ganzen Straße verteilt war und den tiefen Krater im Boden neben dem Haus. Ich sah Papierfetzen mit englischen Buchstaben darauf geschrieben. Als ich es aufhob, sah ich, dass es Hausaufgaben waren, eine Englischarbeit. Einer der Sätze, die Dina Abi Whadi dort in Englisch geschrieben hatte, lautete: „Mein Vater ist tot.“
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