„Ein Gefangenenlager im Freien“

von Marcus

Zusammen mit einigen anderen ISM-Freiwilligen fuhr ich nach Rafah – eine sehr kleine, überbevölkerte und verarmte Stadt im Gaza-Streifen an der Grenze zu Ägypten – ein Gefangenenlager unter freiem Himmel.

Wir hielten uns bei Familien auf, denen ständig die Gefahr droht, dass ihr Haus zerstört wird. Die israelische Armee versucht, entlang der Grenze eine Pufferzone zu bilden, wo sich ihre Panzer frei bewegen können. Dazu sprengen sie Häuser In den frühen Morgenstunden, wenn die Wahrscheinlichkeit des Widerstandes der Menschen am geringsten ist. Menschen, deren einziges „Verbrechen“ es ist, an für die Panzer ungelegenen Orten zu leben. Wo sie hinziehen sollten, wenn ihre Bleibe, ihr Hab und Gut in Rauch aufgehen, interessiert die IDF nicht.

In der Nähe liegt ein Dorf names Mawasi, welches von der Küste durch eine illegale Siedlung abgeschnitten und auf der anderen Seite von militärischen Einrichtungen umgeben ist. Der einzige Weg aus dem Dorf führt durch einen Armee-Kontrollpunkt in Richtung Rafah. Dieser Kontrollpunkt wird zwei bis dreimal am Tag geöffnet, aber nur für jene PalästinenserInnen, die in der Siedlung arbeiten. Für die DorfbewohnerInnen, die gegenwärtig dort leben, ist es ein Albtraum, das Dorf zu verlassen, und geradezu unmöglich, wieder zurückzukehren. Während die ArbeiterInnen eine Quelle billiger Arbeitskräfte darstellen, sind die DorfbewohnerInnen nur ein Hindernis für den Ausbau der Siedlungen.

Wir versuchten, einige dringend benötigte Medikamente durch den Kontrollpunkt nach Mawasi zu bringen, doch ein weißer Jeep der Shabak (israelische Geheimpolizei) hielt uns auf und konfiszierte sie.

Am zweiten Tag meines Aufenthaltes in Rafah zerstörte die Armee zehn Gebäude, fünf weitere am Tag, als ich Rafah verließ. In dem einen Monat, den ich in Palästina verbrachte, wurden etwa fünfzig PalästinenserInnen ermordet – hauptsächlich unbewaffnete ZivilistInnen – bei fast keinem Verlust auf israelischer Seite.

Die Verwandten der Toten, die Familien, die über Nacht obdachlos wurden, die Wehrpflichtigen, die diese grausame Angelegenheit angingen, die Berufsoffiziere und -politiker, die das Militär eingesetzt haben, und jeder gewöhnliche Israeli in Tel Aviv mussten sich auf Rache gefasst machen.

Zwei Tage, nachdem ich Rafah verlassen hatte, am selben Tag, als ich Tel Aviv erreicht hatte, passierte es: Ein Doppelselbstmordattentat am zentralen Busbahnhof tötete 22 Menschen. Viele von ihnen waren verarmte ausländische GastarbeiterInnen, nahezu alle waren ZivilistInnen. Die Weltpresse nahm natürlich Notiz davon, berichtete ausführlich darüber – im Gegensatz zu den viel zahlreicheren alltäglichen Todesfällen in Palästina, über die fast nie berichtet wird.

Die Abscheulichkeit dieses Aktes der Vergeltung war derartig groß, dass die Gruppe, von welcher dieses Attentat ausging – Islamischer Jihad – alle Verantwortung von sich wies.

Viele glauben die Lügen der Medien und haben, durch deren Verzerrung der Tatsachen, ein falsches Bild vom palästinensischen „Terror“ und den israelischen Akten der „Selbstverteidigung“.

Seit meiner Reise habe ich ein anderes Bild: So lange, wie Israel arabisches Land besetzt hält und die EinwohnerInnen vertreibt, wird auch weiterhin auf beiden Seiten Blut vergossen werden. Und das ist schlimm – für alle Betroffenen.