„Die Söhne und Töchter Palästinas“
Rekha, Gaza-Streifen
Während der zwei Wochen, die wir in Palästina waren, verbrachten wir vier Tage in der südlichsten Stadt des Gaza-Streifens – Rafah. Diese liegt unmittelbar an der Grenze zu Ägypten und ist eins der am stärksten betroffenen Gebieten in Gaza. Es vergeht kaum eine Nacht, in der keine Häuser von israelischen Panzern und Bulldozern zerstört werden. Die Menschen gehen mit der Ungewissheit ins Bett, ob ihr Haus am nächsten Tag noch steht oder ob sie die Nacht überhaupt überleben. Wir trafen einen Mann namens Ibrahim, der uns die Trümmer zeigte, die einst die Heimat von ihm, seiner Frau und acht Kinder waren. Das, was wir sahen, hat sich als schockierende Normalität herausgestellt. Zerstückelte Betonblöcke, die einst eine Mauer waren, einige noch stehende Mauerteile übersäht mit Einschusslöchern. Kleiderfetzen, Schuhe und Spielzeug zwischen dem Schutt verstreut.
Ibrahim lud uns in das Haus seiner Nachbarn ein, wo er und seine Familie jetzt leben. Bei einem Tee erzählte er von jener Nacht. Er hatte nur ein paar Minuten, um seine Kinder zu wecken und sie in Sicherheit zu bringen, bevor sein Haus angegriffen und später komplett zerstört wurde.
„Sind wir keine Menschen?“ fragte er. „Ist unser Leben nichts wert? Ich möchte weder den Mond noch die Sterne, ich möchte einfach nur glücklich sein und mein Haus zurück. Ist das zuviel verlangt?“
In dieser Nacht begleiteten wir Ibrahim und einige andere Männer, um Ausschau nach den Panzerkonvois zu halten, welche wie eine Invasion ohne Vorwarnung in die Orte eindringen. In der Stille der Nacht tranken wir Tee und aßen Wassermelonen, als wir am Ende der Straße laute Maschinengewehre hörten, die dem Anschein nach ziellos umherschossen. Ibrahim versicherte uns, es sei alles in Ordnung. Wir sahen die roten Leuchtraketen am Himmel. Im Dunkeln sitzend, fing ich an, mich zu fühlen, als würden wir gejagd, und ich musste an die acht Kinder im Haus denken. Das sind die Geräusche, mit denen sie jede Nacht einschlafen. Jeden Morgen sehen sie neue Einschüsse entlang der Straße. In dieser Nacht blieben sie verschont von den Panzern, aber vielleicht gibt es bald eine, in der sie weniger Glück haben werden. Unter denen, die von der IDF in Rafah ermordet werden, sind 48% jünger als 12 Jahre.
Ein Mann namens Abdullah Roof war unser Begleiter für einen Großteil unserer Zeit hier. Er wird von den Israelis gesucht, weil er Kinder ‚aufhetzt’ zu rebellieren. Für die PalästinenserInnen ist er so etwas wie ein Lokalheld. Er rief das „Kinderparlament“ ins Leben, welches Kindern die Möglichkeit bietet, sich gegen die Besetzung zu organisieren. Dort können sie ihre Probleme diskutieren, z.B. dass sie auf dem Weg zur Schule angeschossen werden.
Sie haben regelmäßige Wahlen und Treffen, um ihre Aktivitäten zu planen, wie das Entwerfen von Plakaten und Flugschriften über den Kampf gegen die Besatzung oder Wandmalereien und Graffitis. Wir nahmen an einem dieser Treffen teil und uns wurden viele Fragen gestellt. Ich war sehr überrascht, wie politisiert sie waren. Kinder, die nicht älter als acht waren, stellten uns Fragen wie: „Warum erlaubt die USA Scharon, uns zu töten?“ „Warum greift die UN noch immer nicht ein? Gibt es sie nicht, um Menschenrechte auf der ganzen Welt zu verteidigen? Haben wir keine Menschenrechte?“
Während des Treffens fing ein Mädchen zu singen an. Sie sang ein Lied über den Verlust des Vaters und der zwei Brüder, die von israelischen Raketen getötet wurden. Mit den Händen vor der Brust gekreuzt und Augen voller Schmerz, wie sie niemals jemand haben sollte, erst recht kein Kind, sang sie:
„Stehen und Kämpfen gegen die Unterdrücker – für die Freiheit! Wir sind die Söhne und Töchter Palästina. Wir kennen keine Grenzen, keine Ängste!
Wir stehen und kämpfen, unsere Seelen opfern wir – für ein unabhängiges Palästina! Vater, ich weiss, du warst ein Kämpfer, ich weiss du bist tot und kommst niemals zurück.“
Eines Nachts gingen wir in ein Cafe, wo sich junge Männer treffen, um Tee zu trinken und zu rauchen, nach einem Tag des Kämpfens. „Alles, was wir haben, sind Steine“ sagte einer zu mir. „Sie haben Panzer und die neuesten Waffen. Sie sagen, sie erschießen Kinder, weil sie sich von ihnen bedroht fühlen. Glaubst du das? Glaubt das irgendwer?“
Wenn du deinen Blick durch Rafah schweifen lässt, siehst du ein Meer von weißen Zelten, wo jetzt die Menschen leben, die ihre Häuser verloren haben. Kein sauberes Wasser, keine Kanalisation. Du siehst Schutt und Dreck. Einschusslöcher an jeder Wand. Du siehst wütende junge Männer an jeder Straßenecke. Du hörst immer wieder das Feuer von Maschinengewehren. Du hörst die entsetzlichen Schreie derer, die einen geliebten Menschen an die Tötungsmaschine IDF verloren haben. Du hörst Berichte von Menschen, die in der Nacht zuvor an der Grenze getötet wurden. Du siehst die Armut und das Elend in den Flüchtlingslagern.
Aber, du siehst auch Menschen, die jeden Tag, mit allem was sie haben, gegen die Besetzung kämpfen.
Woran ich bei Rafah am häufigsten denke ist, die Aufopferung der Menschen und ihr gemeinsamer Kampf. Der Optimismus, die Hoffnung, die Gastfreundlichkeit und Großzügigkeit der Menschen dort, trotz des großen Elends. Der Glaube daran, dass die Dinge sich ändern können – sich ändern werden!
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