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Thesen zur Gewerkschaftsarbeit

Mit diesem Dokument wollen wir, die Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO), allgemeine Thesen zum Zustand der Gewerkschaften heute und zur Arbeit von RevolutionärInnen in ihnen vorstellen. Uns ist bewusst, dass diese Thesen sehr abstrakt gehalten sind – sie müssen es auch sein, da sie weniger auf konkreten eigenen Erfahrungen, als auf theoretischen und historischen Überlegungen fußen. Dementsprechend stellt dieses Dokument unseren eigenen Diskussionsstand dar, wenngleich wir glauben, dass viele der Erkenntnisse daraus verallgemeinerbar sind.

I. Der Zustand der Gewerkschaften

Gewerkschaften sind essentielle Kampforgane der ArbeiterInnen. Sie ermöglichen es den ArbeiterInnen, ihre Konkurrenz untereinander zu überwinden, und zumindest ihre grundlegendsten ökonomischen Interessen innerhalb des Kapitalismus zu verteidigen.

Zudem bieten sie auch eine Grundlage für die effektive Organisierung und Mobilisierung der ArbeiterInnenklasse gegen die herrschenden Verh�ltnisse. Dementsprechend ist der Zustand der Gewerkschaften ein wichtiger Faktor im Kampf gegen den Kapitalismus.

Notwendig ist allerdings ein breites revolutionäres Bewusstsein unter den ArbeiterInnen – ihre Selbstwahrnehmung als revolutionäres Subjekt. Dieses Bewusstsein entsteht aber keineswegs automatisch, sondern ist mit vielen Konflikten, Sprüngen, Rückentwicklungen usw. verbunden. In diesem Prozess muss eine Verankerung revolutionärer Kräfte vor allem in den Betrieben und Fabriken geschaffen werden, um das Bewusstsein durch kontinuierliche politische Arbeit und Agitation zu fördern. (Und so die Gewerkschaften zu klassenkämpferischen Organen zu machen.)

1a. Bürokratie

Seit Gewerkschaften bestehen, verfügen sie auch über einen notwendigen Verwaltungsapparat, der allerdings leicht ein Eigenleben entwickelt. Gerade in reichen imperialistischen Ländern wie Deutschland hat sich daraus eine verselbständigte Bürokratie gebildet, die auch auf die Ressourcen der Bourgoisie und ihres Staates zugreifen kann. (Auch in den wirtschaftlich schwächeren Ländern der Welt gibt es diese Bindungen zwischen Bourgeoisie und Gewerkschaftsbürokratie – die Ressourcen dafür sind allerdings geringer.) Doch im Wesentlichen stützt die sich auf die organisierte ArbeiterInnenklasse, weshalb sie auch gewisse (bürokratisch organisierte) Kämpfe führen und gewisse Erfolge rausholen muss, um sowohl von den ArbeiterInnen wie von den KapitalistInnen als notwendige VermittlerInnen wahrgenommen zu werden. Sie verfolgt vor allem ihre eigenen Interessen, anstatt für die der ArbeiterInnen einzutreten.

Besonders im Falle Deutschlands ist das alles andere als ein Zufall: Nach der völligen Zerschlagung der ArbeiterInnenbewegung durch den Faschismus wurden die Gewerkschaften ab 1945 unter Anleitung der Siegermächte bewusst „von oben“ aufgebaut. So wurden sie ganz im Sinne korporatistischen Ausgleichs in die herrschenden Verhältnisse eingepasst: Starke Verbindungen zwischen Staat und Gewerkschaftsapparat sind Normalität, GewerkschaftsvertreterInnen sitzen in Regierungskommissionen und Aufsichtsräten von Unternehmen. Manche von ihnen wechseln nach ihrer BürokratInnenkarriere auch unverhohlen in hohe Wirtschaftspositionen.

Solche GewerkschafterInnen werden sich natürlich hüten, ernsthaft gegen die UnternehmerInnen zu rebellieren, denen sie ihre Posten verdanken. Sie sind in erster Linie an ihrer eigenen materiellen Existenz innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft interessiert. Deswegen haben sie keinerlei Motivation, diese zu überwinden.

Stattdessen wurden die bestehenden Gewerkschaften in Deutschland vom Modell der „Sozialpartnerschaft“ geprägt, das auf Grundlage des sogenannten „Wirtschaftswunders“ entstanden ist, um die ArbeiterInnenklasse ruhig zu stellen.

Diese Ideologie der Sozialpartnerschaft propagiert nichts anderes als eine Politik der Klassenkollaboration zwischen ArbeiterInnen und UnternehmerInnen. Erstere sollen sich möglichst nicht gegen „notwendige“ Einschnitte wehren, sondern den KapitalistInnen ein reibungsloses und profitables Wirtschaften ermöglichen. Das helfe dem „Standort Deutschland“, wodurch Reformen und Verbesserungen ermöglicht würden, die am Ende auch den Beschäftigten zu gute kämen.

Doch der Kapitalismus ist nicht reformierbar. Die Aufrechterhaltung dieses falschen Bewusstseins dient nur dazu, das System des Kapitalismus zu sichern, es zu stabilisieren und letzten Endes neue Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse vorbereiten zu können.

Manchmal droht die Wut über diese Angriffe in wilde Streiks oder andere offensive Aktionen der ArbeiterInnen umzuschlagen. Dann kommt auch die angepassteste Gewerkschaftsführung nicht um etwas kämpferischere Rhetorik und die kontrollierte Mobilisierung ihrer Basis herum. Damit verhindert sie, dass ihr Unwille (und ihr Unvermögen), für ArbeiterInnen-Interessen einzutreten, völlig offengelegt wird. Sie gibt sich selbst eine Existenzberechtigung und ermöglicht es ihrer Basis, unter kontrollierten Bedingungen „Dampf abzulassen“.

So haben die von den Gewerkschaften geführten Auseinandersetzungen überwiegend die Funktion, den bürokratischen Apparat der Gewerkschaft zu konservieren, die Kontrolle über die ArbeiterInnen zu festigen und eben nicht für das Interesse der ArbeiterInnenklasse zu kämpfen.

1b. Bewusstsein

Gewerkschaften können und sollten als Schulen für den Klassenkampf fungieren. Insbesondere, da das Klassenbewusstsein der ArbeiterInnen viel stärker und eindringlicher durch praktische Erfahrungen geformt wird als durch irgendeine abstrakte Propaganda. Gerade durch gemeinsame Kämpfe um Lohnerhöhungen, verbesserte Arbeitsbedingungen und den Erhalt ihrer Arbeitsplätze, können Beschäftigte ihre gemeinsamen Interessen erkennen und das Potenzial ihrer vereinten Kräfte erahnen.

Der Führungsanspruch der reformistischen Bürokratie hat dieses Bewusstsein jedoch nachhaltig geschädigt. Einerseits, weil sie die Arbeitskämpfe auf ein Minimum begrenzt und stets versucht, eine Radikalisierung der Basis zu verhindern. Andererseits, weil sie auch die kleinsten Auseinandersetzungen unter ihrer Kontrolle hält. Dies hat zu einer schwer überwindbaren Passivität der ArbeiterInnen geführt. Ob gewerkschaftliche Aktionen durchgeführt werden, hängt kaum vom Mehrheitswillen der Basis ab, sondern vielmehr vom Gutdünken der FunktionärInnen. Kommen Beschäftigte doch einmal auf die Idee, eigene Initiativen zu starten, sehen sie sich schnell mit umfassenden Disziplinarmaßnahmen konfrontiert.

Das führt soweit, dass Gewerkschaften von Beschäftigten teilweise nur noch als außenstehende Institution wahrgenommen werden, die Mitglieder wirbt, um Beiträge zu kassieren, die aber sonst keinen Nutzen hat. Die Betroffenen erkennen (weil es überdeutlich ist), dass die Gewerkschaften in ihrem aktuellen Zustand nicht ihre Interessen vertreten (sondern nahezu zum Selbstzweck degeneriert sind). Fatalerweise verwerfen sie mit dieser Erkenntnis auch leicht die Idee der Gewerkschaft an sich – sind also auch für sinnvolle Formen der Organisierung weniger offen.

Die Passivität der Basis, die durch die bürokratische Funktionsweise der Gewerkschaften immer wieder reproduziert wird, halten die FunktionärInnen dann den ArbeiterInnen als Grund für die passive Politik der Gewerkschaften vor. Trotz der verräterischen Politik der Gewerkschaftsbürokratie genießt diese Führung in bestimmten, meist besser gestellten Schichten der ArbeiterInnen aber noch Vertrauen. Dieses Vertrauen setzt sich aus verschiedenen Motiven zusammen: Die Perspektivlosigkeit, das eigene subjektives Wohlbefinden, der Glaube an die Versprechen der Bürokratie und die Unerfahrenheit im politischen Kampf bilden die Grundlage des Vertrauens an die Gewerkschaftsbürokratie. Gerade deswegen ist es entscheidend, dass RevolutionärInnen die Gewerkschaftsführungen immer wieder zu klassenkämpferischen Aktionen auffordern, damit alle Teile der ArbeiterInnenklasse ihre Erfahrungen mit ihnen machen und alle Illusionen in sie überwinden können.

Das Bewusstsein der ArbeiterInnen ist meistens anders als das historische Interesse der ArbeiterInnenklasse, deswegen trägt die ArbeiterInnenklasse in sich auch reaktionäre Ideen. Die ArbeiterInnen können solche Ideen in Zeiten des Kampfes sehr schnell verwerfen – dafür muss aber eine revolutionäre Politik betrieben werden, die schon vorher angefangen haben sollte.

II. Revolutionäre Gewerkschaftspolitik

Es ist die Aufgabe von RevolutionärInnen, gegen den schädlichen Einfluss der Gewerkschaftsbürokratie anzukämpfen und die Passivität der Basis zu überwinden. Nur so ist es möglich, schlagkräftige Gewerkschaften zu schaffen, die ein wirksames Werkzeug im Klassenkampf darstellen.

2a. Verankerung

Für eine revolutionäre Organisation reicht es nicht aus, sich in der Theorie und allgemeinen Propaganda auf die ArbeiterInnenklasse als revolutionäres Subjekt zu beziehen. Diese grundsätzliche Orientierung muss auch einen Ausdruck in der praktischen Politik der Organisation finden – und ab einer gewissen Größe auch in ihrer Mitgliederstruktur.

Es ist also ein wichtiges Ziel, sich in den Belegschaften von Betrieben und Fabriken zu verankern. Nur so kann in sinnvoller Weise Einfluss auf die Gewerkschaften (und perspektivisch auf größere Teile der ArbeiterInnenklasse) genommen werden. Außerdem ist es nur so möglich, die eigenen politischen Ideen in der Praxis zu überprüfen.

Dabei geht es vor allem darum, von den Beschäftigten als seriöse politische Kraft wahrgenommen zu werden, die zwar radikalere, aber letztlich auch sinnvollere und wirksamere Lösungen für ihre Probleme anbietet.

Um überhaupt Zugang zu einem Betrieb zu finden, ist es nicht sinnvoll, sich nur auf kurzfristig hochkochende Konflikte und nach außen wahrnehmbare Arbeitskämpfe zu konzentrieren. Solche Ausnahmesituationen können zwar als Anlass zur ersten Kontaktaufnahme mit ArbeiterInnen genutzt werden. Diese Gelegenheiten lassen aber erstens gerne etwas länger auf sich warten und zweitens entfaltet eine solche Intervention allein keine nachhaltige Wirkung.

Stattdessen ist langfristige Aufbau- und Überzeugungsarbeit als kontinuierlicher Bestandteil der sonstigen Organisationspolitik gefragt.

RevolutionärInnen können bereits mit einfach Mitteln wie regelmäßigen Betriebsflugblättern und Gesprächen mit ArbeiterInnen zur Verankerung beitragen. (Und dabei ihre eigenen Vorstellungen von Gewerkschaftsarbeit einbringen.)

Dabei muss in der Praxis aufgezeigt werden, dass revolutionäre Standpunkte dem reformistischen Mainstream überlegen sind. Dazu ist es notwendig, nicht nur zu den „großen Fragen“, sondern auch zu allt�glichen Problemen der ArbeiterInnen Stellung zu beziehen und Antworten zu geben.

Wobei aber die revolutionäre Perspektive (mitsamt dem Plan, eine kommunistische Gesellschaft zu errichten) immer mit der alltäglichen Betriebsarbeit verbunden werden muss. Dies nicht zu tun, wäre ebenso schädlich, wie die opportunistische Anpassung an reformistische oder reaktionäre Vorstellungen der Beschäftigten, nur um kurzfristig deren Zustimmung zu ernten. Ein Weg, die Tagesforderungen mit einer revolutionären Perspektive zu verbinden, ist die Methode der Übergangsforderungen, wie sie Trotzki im Übergangsprogramm der Vierten Internationale 1938 systematisiert hat.

Es kommt darauf an, in den Betrieben, in denen die RevolutionärInnen eine Verankerung geschaffen haben, auch politische Fragen zu thematisieren, z.B. die Mobilisierung zu einer Demo gegen Nazis, die Frauenunterdrückung, der Krieg und der Rassismus. Revolutionäre Politik bedeutet die Verbindung der verschiedenen Themen herzustellen – auch in den Betrieben, Fabriken usw. Eine Haltung, die von Anfang an nur auf reine Betriebsarbeit zielt, ist im Grunde nur Ökonomismus. ArbeiterInnenpolitik ist politische Arbeit und umgekehrt.

2b. Betriebsräte

Die Mitarbeit in offiziellen Gewerkschaftsgremien ist für RevolutionärInnen ebenfalls nicht das erste Mittel der Wahl, um Einfluss auf ArbeiterInnen und ihre Kämpfe zu gewinnen. In konkreten Fällen kann die Kandidatur als Betriebsrat o.ä. jedoch eine sinnvolle Ergänzung zu bestehender Betriebsarbeit sein (aber keinesfalls ein Ersatz für diese). Nämlich dann, wenn sie mit praktischen Vorteilen einhergeht, die die bisherige Arbeit unterstützen. Zum Beispiel durch die Möglichkeit an vertrauliche Informationen zu gelangen, die in Konfliktfällen von Nutzen sein können, oder durch den Zugang zu größeren Teilen der Belegschaft. Dabei ist allerdings immer abzuwägen, ob dies wirklich den zusätzlichen Aufwand und die damit einhergehenden Risiken rechtfertigt.

Der Anpassungsdruck in solchen Posten darf nicht unterschätzt werden. Einerseits können die tagtägliche Kleinstarbeit, Papierkram und organisatorischer Aufwand soviel Platz einnehmen, dass die revolutionäre Politik schlicht verdrängt wird. Andererseits können die materiellen Vorteile wie Arbeitsplatzsicherheit, zusätzliche Vergütung und ähnliches auch dazu verleiten, sich lieber an die „Realpolitik“ zu halten, um den Posten nicht zu verlieren. Deswegen sollte ein solches Unterfangen nur erfahreneren GenossInnen zugemutet werden, die den zusätzlichen Aufwand bewältigen können und die Betriebsratsarbeit grundsätzlich der Politik der eigenen Organisation unterordnen.

Entscheidet die Gruppe sich tatsächlich kollektiv für die Annahme eines Gewerkschaftspostens, muss beachtet werden, dass es nicht möglich ist, revolutionäre Politik „von oben“ durchzusetzen. Statt die Basis zu bevormunden (wie es BürokratInnen für gewöhnlich tun), müssen die neu gewonnenen Möglichkeiten genutzt werden, um die ArbeiterInnen zu aktivieren und zur Selbsttätigkeit anzuleiten.

2c. Demokratie

Die demokratische Selbstorganisation und Selbsttätigkeit der ArbeiterInnen und deren Kontrolle über die eigenen Kämpfe sind Grundvoraussetzungen, um die Gewerkschaft zu einer wirklich effektiven Interessenvertretung und in letzter Instanz zu einem klassenkämpferischen Organ zu machen. KommunistInnen kommt die Aufgabe zu, diese Dinge nach Kräften zu unterstützen.

Die Scheindemokratie des Gewerkschaftsapparats muss durch eine echte Demokratie der Beschäftigten ersetzt werden. Dazu gehört nicht nur die direkte Wahl von MandatsträgerInnen, sondern z.B. auch ein breiter Diskurs über Probleme der Belegschaft und die Ziele und Vorgehensweisen der Gewerkschaft. Solche Diskussionen müssen möglichst alle Beschäftigten miteinbeziehen, um diese zu aktivieren und ihre Einbeziehung in demokratische Prozesse zu ermöglichen. Die offene Konkurrenz aller Ideen und Vorschläge erhöht dabei die Chance, dass radikalere Maßnahmen ernsthaft bedacht und umgesetzt werden.

RevolutionärInnen fordern die direkte Wahl und jederzeitige Abwählbarkeit von FunktionärInnen durch Mitgliederversammlungen und – wenn sie selbst Funktionen übernehmen – praktizieren solche Prinzipien in ihrer eigenen Arbeit. Zur Abgehobenheit der Apparate gehört, dass selbst untere FunktionärInnen erhebliche Privilegien genießen und deutlich mehr verdienen, als die meisten Gewerkschaftsmitglieder, die sie vertreten. Deswegen fordern RevolutionärInnen, dass FunktionärInnen nicht mehr verdienen als einE durchschnittlicheR FacharbeiterIn.

Bei Verhandlungen, die die gesamte Belegschaft betreffen, muss ununterbrochen propagiert werden, dass die VertreterInnen bei jeglichen Gesprächen mit UnternehmerInnen vor der gesamten Belegschaft Rechenschaft ablegen müssen. Die ArbeiterInnen können auch auf technische Mittel zurückgreifen und z.B. wichtige Gespräche auf einer Leinwand übertragen lassen.

2d. Selbstorganisation

Offene Debatten sind jedoch sinnlos, wenn aus ihnen keinerlei Konsequenzen folgen, z.B. weil die ArbeiterInnen sich zwar für ein neues Vorgehen entscheiden, der aktuelle Betriebsrat ihre Position aber nicht unterstützt. Statt reformistischer StellvertreterInnen, die zum etablierten Apparat gehören, brauchen die Beschäftigten deswegen eigene Organe, die flexibel auf den Mehrheitswillen reagieren und diesen umsetzen können. Diese bieten wiederum eine Plattform für revolutionäre Linke, die um eine Mehrheit in diesen Organen ringen müssen, mit dem Ziel, eine revolutionäre Strömung in der Gewerkschaft und im Betrieb zu etablieren.

Eine der wichtigsten Einrichtungen dieser Art ist das Streikkomitee, in dem über die Maßnahmen in einer akuten Auseinandersetzung mit der Unternehmensführung entschieden wird. Dabei sollte kein Unterschied zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Nichtmitgliedern gemacht, sondern die Zusammenarbeit aller streikwilligen Kräfte angestrebt werden.

Darüber hinaus sollte es aber auch in ruhigeren Zeiten regelmäßige Versammlungen der Beschäftigten geben, um sich von der Bevormundung durch die Gewerkschaftsbürokratie zu lösen und auch in kleineren Kämpfen wichtige Erfahrungen zu sammeln.

2e. Einheit

RevolutionärInnen treten grundsätzlich für die Einheit aller ArbeiterInnen ein – also auch für die Einheit der Gewerkschaft. Das heißt, es gibt nur eine Gewerkschaft für alle Beschäftigten eines Unternehmens, oder besser noch für alle in einer Branche – und in diese können sich alle politischen Strömungen einbringen.

Wir müssen jedoch anerkennen, dass eine zersplitterte Gewerkschaftsbewegung – wie etwa in Frankreich – unter bestimmten Bedingungen für die ArbeiterInnenklasse vorteilhaft sein kann: wenn die Gewerkschaften untereinander um Mitglieder konkurrieren müssen, können sie sich nicht so offen an den Bedürfnissen des Kapitals orientieren, wie es beim DGB der Fall ist. Die Spartengewerkschaften, die in den letzten Jahren von eher privilegierten Schichten der ArbeiterInnenklasse gebildet bzw. gestärkt wurden (Cockpit für PilotInnen, GDL für LokführerInnen und Zugpersonal, Marburger Bund für ÄrztInnen usw.) sind abstrakt gesehen eine

negative Erscheinung, weil sie Belegschaften in einzelnen Unternehmen zwischen verschiedenen Gewerkschaften aufteilen. Doch die daraus resultierende Konkurrenz kann konkret dazu führen, dass alle Gewerkschaften kämpferischer auftreten müssen (wie Transnet während des GDL-Streiks Ende 2007). Statt einem abstrakten Ruf nach Einheit ist hier eine flexible Haltung und konkrete Positionierungen gegenüber jedem Arbeitskampf erforderlich. Trotzdem müssen RevolutionärInnen dafür kämpfen, dass die privilegierten Teile der ArbeiterInnenklasse in ihren Forderungen auch die anderen Teile der Klasse vertreten.

Ähnliches gilt für die Bildung alternativer Listen in einzelnen Betrieben, die bei Wahlen gegen die offizielle Gewerkschaftsliste antreten. Wenn die Bürokratie es unmöglich macht, dass kämpferische ArbeiterInnen auf der offiziellen Liste kandidieren, während sie selbst gegen die Interessen der Belegschaft arbeiten, dann ist die Aufstellung einer Alternativliste absolut zulässig. Das gilt auch für solche, die sich völlig unabhängig von bestehenden Gewerkschaften konstituieren. Zum Beispiel, wenn die Repression und Ignoranz des sozialdemokratisch kontrollierten Gewerkschaftsapparats keine sinnvolle Zusammenarbeit zulassen.

In solchen Fällen ist es nur logisch, dass die fortschrittlichsten ArbeiterInnen nach anderen Möglichkeiten suchen. Diese Initiativen zu verurteilen, nur weil mensch das abstrakte Konzept der Einheitsgewerkschaft in Gefahr sieht, wäre fatal. Stattdessen sollten RevolutionärInnen auf deren Erfolg setzen und sie unterstützen. Schließlich kann so Druck auf den reformistischen Apparat ausgeübt und eine Öffnung für radikalere Strategien erzwungen werden. Langfristig wird so auch wieder das Ziel einer starken, einheitlichen Gewerkschaft erreichbar.

Gegen jegliches bürokratische Manöver in den Gewerkschaften müssen wir bereit sein, uns zu schützen, damit wir nicht von der organisierten ArbeiterInnenklasse abgekoppelt werden. Wir agieren dagegen, dass es dem Reformismus gelingt, die Avantgarde der ArbeiterInnenklasse von Rest zu trennen. (Wobei natürlich die Avantgarde in der ArbeiterInnenklasse keine statische Einheit ist und ständigem Wandel unterliegt.)

Die Einheit der ArbeiterInnen kann nur auf der Grundlage des historischen Interesses der gesamten Klasse gelingen. Die Forderungen, die sich eben als vorwärtstreibend erweisen, werden von den kämpfenden ArbeiterInnen schnell aufgenommen. Die Einheit ist daher nicht auf der Grundlage der reformistischen und passiven Mehrheit der ArbeiterInnenklasse zu suchen, sondern auf der Grundlage der Forderungen von kämpfenden und fortschrittlichen Teile derselben.

Revolutionäre MarxistInnen sind keine GewerkschaftsfetischistInnen. Die Haltung zur Gewerkschaft interessiert uns nicht wegen der Gewerkschaftseinheit an sich, sondern wegen der Aktionseinheit. Wir verteidigen die Gewerkschaften, solange sich die ArbeiterInnenklasse dort organisiert – wenn aber die ArbeiterInnen sich statt in den Gewerkschaften in Räten organisieren, werden wir die Räte verteidigen.

2f. Unabhängigkeit

Die Idee des Syndikalismus, der ausschließlich auf die Bildung neuer, „unabhängiger“ und revolutionärer Gewerkschaften zielt, führt dagegen in eine Sackgasse. Für einen solchen Aufbau bedürfte es einer Massenbasis. Die Masse der ArbeiterInnen hat heute jedoch ein zutiefst angepasstes und reformistisches Bewusstsein. Das lässt sich wiederum nur durch kontinuierliche Arbeit in den vorhandenen Gewerkschaften ändern.

Notwendig ist deswegen ein Kern von RevolutionärInnen, der wirklich unabhängig von der Bürokratie ist (weil er auf revolutionärer Programmatik fußt und seine eigenen Entscheidungen trifft), aber trotzdem innerhalb der bestehenden Massenorganisation arbeitet. Dieser Kern sollte auf den gleichen Prinzipien und Kriterien beruhen, wie die revolutionäre Organisation selbst.

Gleichzeitig sollte aber mit einem breiten Feld von UnterstützerInnen eine klassenkämpferische Bewegung an der Basis aufgebaut werden, um möglichst viele ArbeiterInnen zu erreichen. So aufgestellt, kann in größere Bewegungen interveniert und diese unter besonders guten Umständen auch deren Führung übernommen werden. Selbstverständlich muss diese Arbeit mit einer stetigen und ungeschönten Kritik der bürokratischen Führung einhergehen.

2g. Übergangsforderungen

Für eine revolutionäre Gruppe, die sich als politische Kraft in einem Betrieb verankern will, besteht eine Schwierigkeit darin, Forderungen und Losungen aufzustellen, die an den eigenen Erfahrungen und Sichtweisen der ArbeiterInnen anknüpfen, ohne reformistischen Denkmustern anzuhängen oder die Beschäftigten mit abstrakten Klassenkampf-Weisheiten zu verschrecken.

Sinnvoll ist hierbei eine Orientierung an Übergangsforderungen im Stile des Übergangsprogramms der Vierten Internationale. Dabei geht es nicht so sehr darum, welche Forderungen aufgegriffen werden, sondern auf welche Weise sie gestellt und weitergedacht werden. In großen und kleinen Kämpfen gleichermaßen müssen Forderungen so zugespitzt werden, dass ihre Erfüllung über den kapitalistischen Rahmen hinausweist, um eine revolutionäre Perspektive zu geben.

Was heißt das konkret? Wenn eine Fabrik von der Schließung bedroht ist, muss ein Streikkomitee gefordert werden, dass den Ausstand und die Besetzung der Fabrik organisiert. Es muss die Frage aufgeworfen werden: Wozu ist der/die UnternehmerIn gut? Warum wird die Fabrik nur von einer Person kontrolliert und nicht von den ArbeiterInnen?

Scheinbar „unwichtige“ Angelegenheiten wie unbequeme Arbeitskleidung o.ä. können ebenfalls sinnvoll zugespitzt werden. Auch hier lässt sich die Frage aufwerfen: Warum entscheidet irgendeinE ManagerIn, dass die ArbeiterInnen nur Billig-Schuhe bekommen? Warum entscheiden nicht diejenigen darüber, die sie acht Stunden am Tag tragen müssen?

Wenn der Belegschaft in einer solchen kleinen Teilfrage die Entscheidungsgewalt zugesprochen wird, entmachtet dies natürlich noch nicht die Unternehmensführung und erschüttert wohl kaum die Grundfesten des Kapitalismus. Es zeigt den ArbeiterInnen aber, dass es sich lohnt, die bestehenden Machtverhältnisse in Frage zu stellen und sich für deren Änderung einzusetzen – vorausgesetzt, diese wurde von ihnen selbst erstritten und nicht unter vier Augen vom Betriebsrat ausgehandelt. Das so erlangte Selbstbewusstsein kann im Zuge weiterer Kämpfe und Erfahrungen in echtes Klassenbewusstsein umgemünzt werden. Aber um eine solche Entwicklung erst einmal in Gang zu bringen, bieten eben auch begrenzte Kämpfe sinnvolle Ansatzpunkte für RevolutionärInnen.

Ein sehr gutes und mittlerweile berühmtes Beispiel für eine erfolgreiche Fabrikbesetzung ist das argentinische Keramikwerk Zanon. Dessen ArbeiterInnen besetzten die Fabrik 2001 und produzieren seitdem unter eigener Regie. Durch die basisdemokratische Selbstverwaltung schafften sie es nicht nur, der Stammbelegschaft gute Löhne zu zahlen, sondern auch noch neue KollegInnen einzustellen – und das trotz des Boykotts durch einige staatliche Stellen und viele Privatunternehmen. Mehr noch – sie verteidigten die Fabrik auch gegen die Rückeroberung durch den offiziellen Eigentümer. Für den Fall, dass die Polizei oder private Sicherheitsdienste einen Räumungsversuch starten würden, hatten sie sich mit Schleudern und selbstgegossenen Keramikkugeln bewaffnet.

Hier zeigt sich, dass aus zugespitzten Arbeitskämpfen nicht nur Räte und Versammlungen als Grundlage echter ArbeiterInnendemokratie, sondern – durch die Notwendigkeit zur Selbstverteidigung – auch Ansätze für eigene Milizen entstehen können.

Aus der Infragestellung bürgerlicher Besitzverhältnisse (durch die Besetzung einer Fabrik), kann also bald auch die Infragestellung des staatlichen Gewaltmonopols folgen: Warum kann die Polizei streikende ArbeiterInnen mit Knüppeln, Tränengas oder schlimmerem attackieren, wenn sie doch nur dazu da ist, das „Recht“ der EigentümerInnen durchzusetzen?

Übergangsforderungen sind nach konkreten Umständen zu wählen. Die Forderungen sollten sich an dem Bewusstsein der Arbeiterinnenklasse orientieren. Dieser Ausgangspunkt muss mit den theoretischen Erkenntnissen des historischen Materialismus verbunden werden. Z.B. auch wenn kein Ansatz von Betriebsbesetzungen oder Räten vorhanden ist, ist es unsere Aufgabe, solche Ziele zu verbreiten.

Es gibt keine Übergangsforderung, die die ArbeiterInnenklasse in den Sozialismus führt – sie sind keine Zauberformel. Die Macht der Übergangsforderungen liegt darin, dass die ArbeiterInnenklasse ihre Interessen in diesen formuliert sieht. Übergangsforderungen sind immer als Teil eines Programms für die sozialistische Weltrevolution zu verstehen.

Das Übergangsprogramm ist die Säule einer marxistischen Organisation. Übergangsforderungen können in einem Betrieb entworfen werden, damit die ArbeiterInnenmacht in diesen Betrieben voranschreitet. Übergangsforderungen, die die kapitalistische Gesellschaft überwinden, sollten im Rahmen der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse geschrieben werden. Als Vorbereitung auf die kommenden Kämpfe sollte das Übergangsprogramm auf der Grundlage der Einschätzung der politischen Lage im Lande und international entworfen werden.

2h. Solidarität

Im Falle Zanons ist die Polizei allerdings nie zur Räumung angerückt, denn die BesetzerInnen waren nicht nur zu militantem Widerstand bereit, sie hatten auch zahlreiche Verbündete. Nicht nur aus der Provinz Neuquén sondern auch aus anderen Teilen des Landes kamen Menschen, um für die Erhaltung der ArbeiterInnenkontrolle zu protestieren. Neben einem Teil der offiziellen Gewerkschaften setzten sich auch LehrerInnen- und Arbeitslosenverbände sowie bekannte Menschenrechtsorganisationen für sie ein. Der Druck wurde so groß, dass Staat und Justiz irgendwann auf die gewaltsame Räumung verzichteten und den ehemaligen Fabrikbesitzer nach acht Jahren des Kampfes sogar offiziell enteigneten.

Der Kampf in einem Betrieb kann über die gewerkschaftlichen Strukturen hinaus zu landesweiten Aktionen und Streiks führen – eben zu politischen Kämpfen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der Streik der TEKEL-ArbeiterInnen, der von einem gewerkschaftlichen Kampf zum praktischen Generalstreik überging.

Die Vernetzung mit anderen Protesten spielt also eine wichtige Rolle in gewerkschaftlichen Kämpfen. Besonders effektiv ist natürlich die Solidarisierung der ArbeiterInnen untereinander (auch aus verschiedenen Branchen), wenn z.B. an verschiedenen Standorten gestreikt wird, um eine Werksschließung zu verhindern. Die Solidarität anderer unterdrückter Gruppen kann aber ebenfalls eine wichtige Stütze sein – und diese können für ihre Anliegen wiederum massiv vom ökonomischen Drohpotenzial der ArbeiterInnen profitieren.

Es gibt auch Möglichkeiten, außerhalb der Betriebe konkrete Solidaritätsarbeit zu leisten. Die Solidarität mit streikenden ArbeiterInnen in einem Betrieb kann dazu führen, dass RevolutionärInnen neue Kontakte herstellen, Erfahrungen sammeln und ihre Positionen in die Diskussionen werfen. In einem Solidaritätskomitee sollten grundsätzlich alle VertreterInnen der ArbeiterInnenklasse vertreten sein. Die ArbeiterInnen sollen ihre eigene Erfahrung mit diesen Parteien machen. Unsere Aufgabe ist, konkrete Forderungen im Sinne der ArbeiterInnenkämpfe aufzustellen und andere Parteien aufzufordern, diese zu übernehmen. Wenn sie das tun, ist es im Sinne der ArbeiterInnen; wenn sie das nicht tun, fällt es uns leichter, sie zu bloßzustellen. Deshalb ist es nicht unsere Aufgabe, Solidaritätskomitees nur für „revolutionäre Organisationen“ zu gründen, sondern für die breite Masse der ArbeiterInnenklasse mit ihren Organisationen.

RevolutionärInnen sollten stets für die Verbindung verschiedener fortschrittlicher Protestbewegungen eintreten – auch wenn es dabei oft Vorurteile oder Desinteresse auf beiden Seiten zu überwinden gilt. SchülerInnen und Studierende haben schon Schwierigkeiten, sich bei Bildungsprotesten untereinander zu vernetzen. Sie mit ArbeiterInnenkämpfen zu verbinden, dürfte eine ungleich schwerere Aufgabe sein – es ist jedoch möglich und lohnenswert. Dabei muss darauf gedrängt werden, dass Solidarität keine einseitige Angelegenheit sein darf und sich nicht nur in Lippenbekenntnissen, sondern in praktischen Aktionen äußern muss.

Für internationale ArbeiterInnensolidarität!

Für eine Demokratisierung der Gewerkschaften!

Für eine Verankerung von RevolutionärInnen in den Betrieben und Fabriken!

Für revolutionäre Fraktionen in den Massengewerkschaften! Für eine klassenkämpferische Basisbewegung!

Für die Verbindung von ArbeiterInnenkämpfen mit anderen Kämpfen der ArbeiterInnen und Unterdrückten!

Für eine revolutionäre Perspektive bei jedem Arbeitskampf!

//beschlossen von: der ersten Konferenz von RIO DE, Mai 2010
// nach einem Entwurf von Tom Hirschfeld

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