Diese Seite ist ein Archiv und wird nicht mehr aktualisiert. Die neue Seite von RIO ist: www.klassegegenklasse.org


 

Klassenkampf unter dem Halbmond

Was bedeutet das anstehende Referendum zur Verfassungsreform in der Türkei?

Die Türkei steckt tief in einer Krise. Die herrschende Klasse des Landes ist gespalten: Die kemalistische Partei CHP, die in der Armee und der staatlichen Bürokratie dominiert, kämpft gegen die konservative AKP, die die Regierung und die Parlamentsmehrheit stellt. Die CHP versteht sich als Schutzmacht der Prinzipien der 1923 von Mustafa Kemal gegründeten türkischen Republik. Die AKP dagegen steht für eine aufkommende Bourgeoisie, die den Staatsapparat in die Schranken weisen will.

Dieser Kampf wird über Verschwörungen, Gerichtsprozesse, Medienkampagnen und konkurrierende Massenmobilisierungen ausgetragen. Nun führt die AKP am 12. September ein Referendum durch, um die Verfassung zu reformieren und die Türkei zu „demokratisieren“. Die CHP warnt vor einer drohenden „Islamisierung“. Doch was steckt wirklich dahinter? Ein Blick auf die türkische Geschichte hilft.

Der Staatsapparat ist der historische Vater der türkischen Bourgeoisie. Nach dem ersten Weltkrieg machte sich das jungtürkische Regime daran, aus den Trümmern des Osmanischen Reiches einen bürgerlichen Nationalstaat aufzubauen. Eine zentrale Aufgabe dabei war es, eine moderne Wirtschaft in den Händen türkischer BesitzerInnen aufzubauen – das heißt, es musste erst noch eine nennenswerte türkische KapitalistInnenklasse gebildet werden.

Mögliche Konkurrenz wurde dafür mit aller Gewalt aus dem Weg geräumt. Erst traf es die im Handel aktive armenische Bevölkerung, dann griechische und assyrische Volksgruppen. Schließlich wurde Nordkurdistan als innere Kolonie behandelt. Die Naturreichtümer dort waren wichtig für die Entwicklung des türkischen Kapitalismus, das kurdische Volk wurde unterdrückt und als massenhafte Reserve billiger Arbeitskraft genutzt.

Unter der strengen Hand der sehr selbstständigen türkischen Staatsbürokratie konnte sich die türkische Kapitalist Innenklasse entwickeln. Durch massive Repression bis hin zu blutigen Putschen verteidigte diese Bürokratie die Interessen des türkischen Kapitals zunehmend gegen die wachsende ArbeiterInnenklasse der Türkei. So war der Militärputsch vom 12. September 1980, an dessen 30. Jahrestag das Referendum stattfindet, in erster Linie gegen eine erstarkende ArbeiterInnenbewegung gerichtet.

Doch inzwischen ist dieser Apparat für bedeutende Teile der türkischen Bourgeoisie selbst zum Hindernis geworden. Vor allem die junge Bourgeoisie aus Anatolien will den Apparat beschränken, der zu frei agiert und Unmengen an Geld kostet. Auf der politischen Bühne wird diese Kraft durch die AKP repräsentiert. Die AKP fußt auf „Türk Islam Sentezi“ (Türkisch-Islamische Synthese), also auf reaktionären Ideologien, die nach dem Putsch von 1980 stark wurden. Von daher entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass heute Schuldzuweisungen an die Adresse türkischer Militärs gehen, wegen Verbrechen, die auch im Interesse der AKP-Fraktion begangenen wurden.

Die AKP-Regierung hat die Arbeiter Innen der Türkei mit Gesetzen (wie die Erhöhung des Rentenalters auf 65) und massiven Privatisierungsprojekten (wie die Privatisierung des staatlichen Tabak-Konzerns TEKEL) angegriffen. Sie verstärkte die Privatisierungspolitik, die seit dem Militärputsch 1980 offizielle Staatspolitik jeder Regierung ist.

Die Verfassungsreform der AKP enthält einige Verbesserungen für die Unterdrückten (v.a. bei der Einschränkung der Armee, die bisher als unkontrollierbarer Staat im Staat funktioniert):

Angestellte des Staates dürfen Tarifverhandlungen führen, jedoch ohne Streikrecht. Der Staat garantiert bestimmte Rechte von Frauen und Kindern. Persönliche Informationen werden besser geschützt. Reisen ins Ausland können nur noch durch Gerichte verhindert werden. Die Kompetenzen der Militärgerichte werden eingeschränkt: Zivilpersonen können nur im Kriegsfall vor Militärgerichte gestellt werden, und Offiziere können auch vor zivile Gerichte gestellt werden.

Die halbherzigen Reformen können und sollen die Lage der ArbeiterInnen nicht nennenswert verbessern. Sie bieten keinen Schutz vor den Hammerschlägen der bürgerlichen Politik. Die einzige Alternative ist eine proletarische Politik, also der konsequente Kampf, vor allem in den Betrieben, gegen alle Kürzungen, Entlassungen, Privatisierungen und Betriebsschließungen. Die Abgrenzung von allen bürgerlichen Kräften, egal ob AKP oder CHP, die Vernetzung der Kämpfe und ihrer AktivistInnen türkeiweit und international: Das ist die einzige Perspektive, um einer elenden Zukunft zu entgehen!

Die Verfassungsreform bedeutet deswegen weder Todesgefahr noch Rettung. AKP und CHP sind Pest und Cholera, beide vertreten die Interessen des türkischen Kapitals. Die im Kapitalinteresse geplante Einschränkung des repressiven Staatsapparats stellt aber keinen Angriff auf unsere Interessen dar. Daher sind wir für ein kritisches „Ja“ in der Abstimmung. Doch egal ob Sieg oder Niederlage des Referendums – über unseren Sieg oder Niederlage bestimmt unsere Fähigkeit, den Kampf gegen die gesamte Bourgeoisie erfolgreich zu führen!

ArbeiterInnenbewegung

Beim Referendum ist viel von „Demokratisierung“ die Rede. Doch die einzige Kraft in der Türkei, die eine echte Demokratisierung durchsetzen kann, ist die ArbeiterInnenklasse. Sie kann sich gegen die Angriffe des Kapitals erfolgreich wehren, wenn sie die Trennung in verschiedene Volksgruppen überwindet, denn sie hat die Wirtschaft wörtlich in ihrer Hand.

Die ArbeiterInnenklasse der Türkei meldete sich im Jahre 2010 mit mehreren kämpferischen Streiks und Demonstrationen zu Wort. Allein die 300.000 ArbeiterInnen am 1. Mai am Taksim-Platz in Istanbul sind ein Zeichen, dass aus den Kämpfen der Arbeitenden ein neues Selbstbewusstsein entstanden ist. Dieses Bewusstsein ist vor allem dank dem Kampf beim Tabak-Konzern TEKEL ab Dezember 2009 entstanden. In diesem Kampf wurden Stärken und Schwächen der ArbeiterInnenbewegung sichtbar.

Tausende TEKEL-Beschäftigte protestierten gegen ihre Entlassung im Rahmen der Privatisierung des Konzerns und zelteten 78 Tage in Ankara, trotz der Angriffe der Polizei und der Drohungen der Regierung. Es wurde auch ein Generalstreik am 4. Februar organisiert. Gleichzeitig gab es auch weitere Arbeitskämpfe in der Türkei: u.a. bei Marmaray, Cimen Tekstil, Kent Is und den Feuerwehren.

Die türkische Linke hat eine starke stalinistische Tradition und konnte deswegen in diesem Prozess leider keine sehr rühmliche Rolle spielen. Überrascht von dem Widerstand der ArbeiterInnen und politisch hilflos haben die meisten Linken die Möglichkeit ignoriert, Versammlungen und Streikkomitees der Arbeitenden zu initiieren. Die Entscheidungskompetenz blieb deswegen in den Händen der Gewerkschaftsbürokratie. Diese Bürokratie wurde immer wieder in Frage gestellt, konnte jedoch nicht zu Fall gebracht werden.

Die von der Linken erhobenen Forderungen waren entweder minimal oder maximal. Entweder wurden die Arbeiter Innen gleich zum bewaffneten Kampf aufgefordert oder zu JuniorpartnerInnen in einer bürgerlichen anti-imperialistische Front erklärt. Auch die beliebte Forderung nach einem Generalstreik war alleine keineswegs ausreichend. Ohne die anderen Sektoren der ArbeiterInnenklasse zu mobilisieren, blieben die Ansätze für Generalstreiks zahnlos. Weder wurde in den Gewerkschaften Druck von unten aufgebaut, noch wurde außerhalb der Gewerkschaften die Zusammenführung der Kämpfe wirklich versucht.

Am 14. September soll nun das Verfassungsgericht über das Ergebnis des Kampfes bei TEKEL entscheiden. Das hat die Gewerkschaftsbürokratie als Ausrede benutzt, um alle Kampfmaßnahmen einzustellen und ausschließlich einen legalistischen Weg einzuschlagen.

Auf die Türkei warten in der nächsten Zeit viele Arbeitskämpfe, wie der laufende Streik bei UPS. Es fehlt aber eine revolutionäre Partei, welche die Erfahrungen aus anderen Ländern und Zeiten vermittelt, wie z.B. die Erfahrungen der KollegInnen bei Zanon oder Kraft Foods in Argentinien, die der ArbeiterInnenbewegung in der Türkei lehrreiche Beispiele geben können, um den Kampf gegen die Angriffe erfolgreich zu führen. Nur eine ArbeiterInnenbewegung, die ihre eigenen Erfahrungen wachhält, kann siegreich für ihre Interessen eintreten.

Welcher Weg jetzt?

Zentral für die Revolution in der Türkei ist die Situation der kurdischen Bevölkerung, die besonders unterdrückt wird. Kurdistan ist eine Kolonie der Türkei, die damit über billige Arbeitskräfte, Rohstoffe und geopolitisch wichtige Gebiete verfügt. Die kurdische Bewegung wird von der BDP (bzw. der PKK) dominiert. Jedoch sind verschiedene Klassen in dieser Bewegung vertreten, die in verschiedene Richtungen gehen.

Die ArbeiterInnen und landlosen Bauern/Bäuerinnen in Kurdistan sind massiv von der Unterdrückung betroffen. Sie leiden am stärksten unter dem türkischen Kolonialkrieg. Dagegen erleben die kleinbürgerlichen Schichten, die die kurdische Bewegung anführen, die Unterdrückung fast nur kulturell. Sie stört v.a., dass sie ihre Sprache, Geschichte und Kultur in den Metropolen der Türkei verleumden müssen. Das schlägt sich in der aktuellen Politik der BDP und der PKK deutlich nieder.

Ihre Haltung, die kurdische Problematik in erster Linie kulturell zu lösen, ohne das Elend der Millionenmassen grundsätzlich ändern zu wollen, führte sogar dazu, dass sie sich zur Verteidigerin der Türkei erklärte. Der kurdische Abgeordnete Hasip Kaplan erklärte im Juli 2010: „Wenn es in der Türkei Themen gibt, die nicht diskutiert werden müssen, dann die Einheit und der Zusammenhalt dieses Landes.“

Die kurdischen ArbeiterInnen sind der Teil des kurdischen Volkes, der sich am schnellsten mit der türkischen ArbeiterInnenklasse verbinden kann. Beim TEKEL-Kampf haben ArbeiterInnen verschiedener Herkunft zusammen gekämpft – in einer Zeit, in der die nationalistische Hetze gegen KurdInnen fast faschistische Züge angenommen hatte. Ein wichtiger Teil der kurdischen ArbeiterInnen lebt in den westanatolischen Slums, weshalb die Einheit von türkischen und kurdischen Lohnabhängigen eine tagespolitische Bedeutung bekommt.

Was für Perspektiven gibt es? Die Mehrheit der Linken in der Türkei strebt nach einer bürgerlich-demokratischen Revolution. In ihrer nationalen Sichtweise scheint die Türkei nicht reif genug für die proletarisch-sozialistische Revolution. Doch gibt es keinen Flügel der Bourgeoisie, der ein ernsthaftes Interesse daran hat, die demokratischen Fragen zu lösen – sie hat zuviel Angst vor einer Mobilisierung der Massen und hält sich viel lieber an die überkommenen Strukturen.

Der TEKEL-Kampf zeigte, dass die ArbeiterInnenklasse der Türkei in der Lage ist, innerhalb kürzester Zeit einen Generalstreik durchzuführen und die politische Atmosphäre grundlegend zu ändern. Nur die ArbeiterInnenklasse in der Türkei und Nordkurdistan ist in der Lage, mit dem Imperialismus, den feudalen Strukturen und dem autokratischen Staatsapparat zu brechen. Doch die ArbeiterInnen dürfen keineswegs das bürgerlich-demokratische Programm von den sozialistischen Aufgaben trennen. Nur ein Programm der permanenten Revolution kann die Türkei grundlegend ändern.

Wenn die ArbeiterInnen gemeinsam kämpfen, sind sie gezwungen, auch gegen die nationalistische Hetze vorzugehen. Eine revolutionäre Organisation in der Türkei muss in der ArbeiterInnenklasse aktiv werden und dabei das Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes verteidigen.

In diesem Sinne müsste ein revolutionäres Programm für die Türkei zumindest folgende Übergangsforderungen beinhalten:

Gegen alle Privatisierungen! Für die Besetzung und Verstaatlichung aller Unternehmen, die mit Entlassungen oder Schließung drohen, unter ArbeiterInnenkontrolle!

Für einen Plan öffentlicher Arbeiten, um die Arbeitslosigkeit und die Unterentwicklung zu beenden, unter Kontrolle der ArbeiterInnenorganisationen!

Für das bedingungslose Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes! Für eine gemeinsame revolutionäre Organisation der ArbeiterInnen aller Nationalitäten!

Offenlegung ausnahmslos aller militärischen Berichte! Aufklärung der tausenden Morde des Apparats durch völkerübergreifende ArbeiterInnen- und Bauerntribunale!

Für gewählte Streikkomitees! Für eine klassenkämpferische Bewegung an der Basis der Gewerkschaften, um den Verrat der Bürokratie zu bekämpfen!

//Stellungnahme von RIO //5. September 2010
//nach einem Entwurf von Suphi Toprak, München, und Victor Jalava, Kiel

//REVOLUTION Nr. 40

RIO • Revolutionäre Internationalistische Organisation • www.revolution.de.com • info[ät]revolution.de.com • (c)opyleft   

Diese Seite ist ein Archiv und wird nicht mehr aktualisiert. Die neue Seite von RIO ist: www.klassegegenklasse.org