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Pinguin-Revolution

Chilenische SchülerInnen besetzen die Schulen und fordern...

Wie nennt man es, wenn Millionen schwarz-weiße Gestalten die Straßen füllen und Steine auf die Polizei werfen? Ein „Pinguin-Aufstand“. So eine Bewegung gab es im Mai und Juni in Chile, als über eine Million Schüler­Innen gegen die miserablen Zustände im Bildungswesen kämpften. Wegen ihrer schwarz-weißen Schuluniformen sah es aus, als ob die Staatsmacht von Pinguinen angegriffen wurde.

Chile gilt als eines der wohlhabendsten und stabilsten Länder Lateinamerikas, „eine Schweiz des Südens“, wie manche PolitikerInnen gern behaupten. Aber die neoliberalen Reformen, die bereits in den 80er Jahren vom Militärdiktator Pinochet eingeleitet wurden, bedeuten immer mehr Verarmung für die breite Masse – und die chilenische Jugend hat sich offensichtlich von dem Aufruhr in anderen Ländern ihres Kontinents inspirieren lassen..

Die Streiks

Die SchülerInnen forderten die Abschaffung des verhassten „organischen verfassungsmäßigen Bildungsgesetzes“ (LOCE), das einen Tag vor Pinochets Amtsabschied im März 1990 in die Verfassung aufgenommen wurde. Dieses Gesetz überantwortet das Bildungswesen den mit geringen Finanzmitteln ausgestatteten örtlichen Verwaltungen – dadurch haben reichere Viertel mehr Geld für Schulen als arme Viertel – und bahnt der Privatisierung von Schulen, Fachhochschulen und Universitäten den Weg.

Die Proteste, die anscheinend aus dem Nichts kamen, basierten auf der Selbstorganisierung der SchülerInnen. Jede Klasse wählte Delegierte, und diese wählten SchulsprecherInnen. Diese wiederum wählten auf Regionaltreffen Delegierte aus ihren Reihen für landesweite Treffen in der Hauptstadt Santiago. Auf diesen Treffen wurde die Bewegung organisiert. Alle Delegierten konnten von der Basis wieder abgewählt werden.

An jeder Schule organisierten sich Komitees: für Sicherheit, Sauberkeit, Propaganda, Versorgung, Spendensammlung, Unterhaltung usw.

Hinter verschlossenen Schultüren organisierten sich die SchülerInnen im Hinblick auf den schulischen Alltag, aber auch für die Ausweitung ihres Kampfes. Sie besetzten die Gebäude, so dass wenigstens immer 30 SchülerInnen anwesend waren. Einkäufe, Küchendienst usw. wurden organisiert und Musikanlagen sorgten für Reggae und Hardcore.

Sie nahmen sich sogar Zeit, die sanitären Anlagen und Schulmauern mit Bildern aus ihrem Kampf künstlerisch zu verzieren oder Theaterstücke zu schreiben, um ihre MitschülerInnen und Gäste zu unterhalten.

Das Bewusstsein

Seit dem Beginn der Proteste haben viele SchülerInnen das Gesetz zur Bildung besser verstanden, was sie unter Anderem dem Einsatz von StudentenInnen verdanken, die sie mit Material und Kurzvorträgen versorgten. Diese Erkenntnisse veränderten die Proteste der SchülerInnen von einer bescheidenen Reformbewegung hin zu einem regelrechten Aufstand gegen die neoliberale Bildungspolitik in Chile.

Aber das Interesse der SchülerInnen galt nicht nur Bildungsfragen: Material von linken, marxistischen Gruppen – z.B. die Zeitung „der schwarz-rote Pinguin“ – wurde regelrecht verschlungen.

Die SchülerInnen entdeckten die revolutionäre Massendemokratie: Redefreiheit, offene Austragung von Streitpunkten, demokratische Schülerräte mit Handlungsvollmacht und Entfernung von Delegierten oder Gruppen, die die Disziplin der Bewegung verletzen.

Der Höhepunkt der Bewegung war am 5. Juni, als sich mehr als eine Million SchülerInnen, LehrerInnen, medizinisches Personal und andere ArbeiterInnen dem Streik anschlossen.

Am Abend gab es einen Aufmarsch in der Innenstadt von Santiago. Trotz ursprünglicher amtlicher Genehmigung entzog die Stadtverwaltung dieser Demonstration die Erlaubnis. Aber Tausende von Jugendlichen und anderen AktivistInnen kamen trotzdem zusammen, um gegen die Regierung und für die Unterstützung der SchülerInnen aufzutreten. Eine Gruppe von GeschichtsstudentInnen erschienen mit einem Transparent: „Wir nehmen an keinen Geschichtsseminaren teil, Geschichte wird auf der Straße gemacht“.

Die polizeiliche Eingreiftruppe trat ihnen gegenüber. Große Wasserwerfer, Gruppen schwer bewaffneter Polizisten, Lastwagen mit Tränengaskanistern und vergitterte Busse, die für Verhaftete bestimmt waren, waren bereits am frühen Morgen an den Verkehrsknotenpunkten rund um die Universität aufgestellt worden.

Um 17 Uhr brachen Handgemenge zwischen Jugend und Eingreifpolizei nahe der Nationalbibliothek aus. Gruppen von Jugendlichen kamen aus der Universität und bewarfen die verhasste Polizei und die Wasserwerfer mit Steinen – eine andere Schülergruppe bekleckerte vom Dach der Universität aus die Polizeischwadron mit Wandfarbe. Ein Katz und Maus-Spiel begann und setzte sich bis tief in die Nacht fort.

Während der Nacht attackierten Neonazi-Gruppen einige der besetzten Schulen. Die SchülerInnen stellten darauf hin ‚Sicherheitsausschüsse’ auf, bewaffnet mit Metallstangen und Keulen.

Die Perspektiven

Gegenwärtig haben die SchülerInnen der Regierung einige Zugeständnisse wie kostenlose Schülerfahrkarten, kostenlose Schulspeisen für arme SchülerInnen abgerungen, sowie Versprechen, die langen Schulstunden zu revidieren, bedürftige SchülerInnen zu unterstützen usw.

Die Regierung versucht zu manövrieren und hat eine Sonderkommission beauftragt, die ein Programm für Verbesserungen im Bildungsbereich ausarbeiten soll. Dass diese Kommission keine wesentlichen Änderungen bringen wird, wissen auch die meisten SchülerInnen Chiles.

Die Massenbewegung der SchülerInnen ist mehr oder weniger verschwunden, weil die meisten Pinguine nach wochenlangen, ununterbrochenen Straßenschlachten und Besetzungen erschöpft waren.

Doch sie haben gezeigt, ähnlich wie die Bewegung gegen das CPE-Gesetz in Frankreich, dass ein paar Wochen revolutionäre Massenkämpfe mehr erreichen können als ein paar Jahrzehnte reformistische Parlamentsarbeit. Die chilenische Jugend, von der eignen Radikalität und Durchsetzungskraft überrascht, hat auch die Arbeiterklasse in Bewegung gebracht und damit das Land erschüttert.

Wenn das in Chile passieren kann, kann es überall – selbst in der BRD – passieren.

//von Diego aus Santiago und Wladek aus Kreuzberg //REVOLUTION

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