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„Jusqu’ici tout va bien ...“

„Bis hierher läuft alles gut....“ Damit hat man sich über die Situation in den Vorstädten Frankreichs getröstet. Aber die Krawallen der Jugendliche haben klar gemacht, dass alles nicht gut läuft.

Frankreichs Ghettos brannten 2005. Und das nicht erst seit Ende Oktober. Der Brand schwelte bereits seit langem.

Schon in vergangenen Jahren kam es immer wieder zum Aufflackern des Widerstandes der Jugendlichen aus den Banlieus gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie leben müssen.

Am Donnerstag, den 27. Oktober 2006 war es erneut soweit. Die drei 15-, 17- und 21-jährigen Jugendlichen Bouna, Zyed und Metin aus Clichy-sous-Bois, einem Vorort von Paris, die abends vom Fußballspielen kamen, waren auf dem Weg nach Hause. Hungrig, denn es war Ramadan und sie hatten den ganzen Tag nichts gegessen, flüchteten sie vor der verhassten Polizei, um der üblichen Schikanierung (mehrere Personalienkontrollen auf der Wache an einem Tag sind z.B. nichts Ungewöhnliches) durch die Beamten zu entgehen.

Sie suchten schließlich in einem Umspannhäuschen Schutz und erlitten heftige Stromschläge. Bouna und Zyed starben; Metin wurde, nachdem er sich nach Hause geschleppt hatte, schwer verletzt in ein Krankenhaus eingeliefert.

Die Regierung ließ verlautbaren, es habe sich bei der Gruppe von Jugendlichen, zu der auch Bouna, Zyed und Metin gehörten, wahrscheinlich um Einbrecher gehandelt. Die drei Opfer seien außerdem gar nicht von der Polizei verfolgt worden.

Haarsträubend! Genau wie die weiteren Äußerungen der Regierung, als die ersten Jugendlichen ihrem Frust mit Riots Luft gaben. Innenminister Sarkozy sprach von den Randalierenden als „Abschaum“ und „Gesindel, das man wegpusten muss“.

Wie kam es dazu?!?

Auch die Tränengasgranate der Polizei, die am darauffolgenden Sonntag im Gebetsraum einer Moschee explodierte, in dem sich etwa 200 Betende befanden, trug dazu bei, dass sich der Aufstand zum Flächenbrand entwickelte.

Die Gründe für die Gewalt liegen auf der Hand: Wer in Clichy-sous-Bois oder einem anderen der Vororte der französischen Großstädte lebt, hat praktisch schon verloren.

Die Jugendlichen haben oft keinen oder nur einen schlechten Schulabschluss und erst recht keine Arbeit. Wollen sie sich bewerben, sollten sie es tunlichst unterlassen, ihre wahre Adresse anzugeben, denn dann ist der Misserfolg schon vorprogrammiert. Ein Großteil der Familien lebt unter der Armutsgrenze. Als wenn das alles noch nicht reichte, müssen sich viele der Jugendlichen, von denen ein großer Teil aus Einwanderer-Familien stammt, auch noch alltägliche rassistische Diskriminierungen gefallen lassen.

Die Polizei ist hier – wie so oft – nicht Freund und Helfer, der Staat spielt hier nicht den fürsorgenden Vater, er ist vielmehr der Unterdrücker, der nicht die Armut, sondern die Armen bekämpft.

Die jugendlichen „Maghrebien“ hassen ihre Lebenssituation und das zu Recht.

Links heißt Solidarität?!?

Gerade die (relativ starke) französische Linke müsste auf diese Missstände verweisen und den Aufstand unterstützen, um dadurch der rebellierenden Jugend eine Perspektive des Klassenkampfes und der Revolution zu eröffnen.

Aber weit gefehlt. Selbst trotzkistische Gruppierungen wie „Lutte Ouvrier“ oder die „Ligue Communiste Revolutionaire“ haben sich nicht gerade darum bemüht, die Aufständischen konsequent gegen die Angriffe des bürgerlichen Lagers zu verteidigen, welche den Aufstand mal als rein kriminell, mal als islamistisch darstellen.

Stattdessen unterschrieb LO eine gemeinsame Erklärung u.a. mit attac und der stalinistischen PCF, in der die Gewalt als selbstzerstörerisch verurteilt wird und es als notwendig bezeichnet wird, die Krawalle um der Bevölkerung willen, „die ganz legitim nach Ruhe strebt“, zu beenden.

Nicht erkannt wurde, dass die arbeitslosen Jugendlichen der Banlieues von sich aus nicht die Notwendigkeit der Überwindung der bestehenden Verhältnisse erkennen können. Ihr Aufstand ist aus einer Lage der Verzweiflung, einem Gefühl von totaler Auswegslosigkeit motiviert und muss folglich „selbstzerstörerisch“ sein.

So, ohne die Unterstützung der Arbeiter­Innen und ihrer Organisationen, gibt mensch den Jugendlichen das Gefühl, wirklich alleine zu sein. Nur die Vernetzung der verschiedenen sozialen Kämpfe miteinander – die der Jugend mit denen der Arbeiterklasse – kann die Lösung bringen.

Der so vereinzelte Kampf der Jugendlichen wurde von der hochgelobten Republik mit brutaler Härte, durch massiven Polizeieinsatz zum Erliegen gebracht. Dazu wurde am 15. November auch der Ausnahmezustand ausgerufen.

Das Gesetz dazu stammt aus der Zeit des Algerienkrieges. Einige jugendliche „Maghrebien“ werden sich vielleicht noch an Geschichten von Familienangehörigen über den 17. Oktober 1961 erinnern, als in Paris 300 algerische DemonstrantInnen von der französischen Polizei ermordet und über zehntausend AlgerierInnen in Sammellager gebracht wurden. Der rassistisch-nationalistisch motivierte Ausnahmezustand gilt noch bis Februar 2006.

Morgen in Deutschland?!?

Das kapitalistische System bewegt sich immer schneller auf die nächste Krise zu. Die Vertreter der „Politik“, z.B. die Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer, benennt vor allem fehlende Deutschkenntnisse als Ursache für soziale Unruhen. Deshalb kann es in nicht allzu ferner Zukunft auch in Deutschland zu ähnlichen Eskalationen kommen.

Kein arbeitsloses Einwandererkind wird mit der Profitgesellschaft zufrieden sein, weil man es in den Deutschunterricht gezwungen hat.

Da die bestehende Gesellschaft die sozialen Spannungen und Probleme immer wieder erzeugt und verschärft, kann letzendlich nur ihre Überwindung und die Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft der Weg sein, um jegliche „Gewalt zu beenden, welche die Bevölkerung belastet, die ganz legitim nach Ruhe strebt“.

//von Jalava aus Kreuzberg //REVOLUTION Nr. 15

* Das Zitat stammt aus dem Film „Hass“ ( „La Haine“, Frankreich, 1995). Wer einen Einblick in die sozialen Spannungen in den französischen Vorstädten will, soll sich diesen Film anschauen.

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