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Folgen des Erdbebens in Chile

Nach dem Erdbeben kontrolliert das Militär ganze Regionen. Die Konzerne geben Almosen, erhöhen Preise, kassieren Steuer­erleichterungen. Ein Gespräch mit Raúl Villablanca, Lehrer in Santiago und Mitglied der trotzkistischen Gruppe "Clase contra Clase" (Klasse gegen Klasse).

Chile stellt sich gern als "Schweiz von Lateinamerika" dar. Doch nach dem Erdbeben vom 27. Februar wurden die sozialen Widersprüche sehr deutlich. Es kam zu Plünderungen, und die Regierung verhängte den Ausnahmezustand …

Schon am Tag des Erdbebens begannen Menschen, in Supermärkte einzubrechen, um Lebensmittel und Wasser zu holen. Einige Leute haben auch Fernseher und andere Produkte, die sie nicht unmittelbar brauchten, mitgenommen. Diese Bilder wurden von den UnternehmerInnen ausgenutzt, um gegen die hungernden Menschen zu hetzen. Die damals noch im Amt befindliche Regierung von Michelle Bachelet (Sozialistische Partei) rief in den betroffenen Gebieten den Ausnahmezustand aus und erließ eine Ausgangssperre.

Die Folgen des Erdbebens hätten nicht so dramatisch sein müssen. Kein einziges Reichenviertel wurde zerstört. In der "Schweiz von Lateinamerika" wurde die soziale Ungleichheit auf einen Schlag sichtbar. Die Armen reagierten mit großer Wut.

Wie hoch sind die Totenziffern?

Offiziell heißt es "fast 800". Aber auch die Regierung gibt zu, dass die Informationen unvollständig sind. Der Bürgermeister von Constitución meinte vor kurzem, dass er sehr besorgt war, weil sie nach dem Tsunami Särge und Leichensäcke für fast 1.000 Leichen brauchten.

Nach dem Hurrikan in New Orleans wurde der schwarzen Bevölkerung ebenfalls Plünderung vorgeworfen – doch selbst Polizeieinheiten bekamen keine Lebensmittel und mussten bei Supermärkten einbrechen. Wie steht es um die humanitäre Hilfe?

Es gibt Hilfe, aber nicht genug. Und die Güter werden von den gleichen Militärs verteilt, die für die Repression verantwortlich sind. Heute kontrollieren sie die Regionen von El Maule und Biobío – das ist ein Zustand, den wir seit der Diktatur unter Augusto Pinochet so nicht erlebt haben. Zwischen 21 Uhr und 10 Uhr herrscht Ausgangssperre, die Versammlungsfreiheit ist massiv eingeschränkt. Die Militärs geben offiziell zu, dass sie jede Nacht durchschnittlich 100 Menschen festnehmen. Es gab bisher auch mindestens einen Toten: David Daniel Riquelme, ein 45jähriger Mann, wurde auf einem Fußballplatz im Dorf El Triángulo tot aufgefunden. Ein Zeuge sagt, dass zwei Soldaten und drei Seemänner ihn zu Tode geprügelt haben.

Das gesamte politische Spektrum predigt jetzt die "nationale Einheit". Wie gehen die UnternehmerInnen mit der Krise um?

Es gab einen Spendenmarathon im Fernsehen, aber es war in erster Linie eine Werbekampagne für die KapitalistInnen. Horst Paulmann zum Beispiel, der Besitzer einer Supermarktkette, hatte sich am Tag des Erdbebens mit Bachelet getroffen und gefordert, dass der Staat sein Eigentum mit Waffengewalt schützt. Als Gegenleistung durfte er medienwirksam einige Millionen Pesos spenden. Die gleichen UnternehmerInnen, die die militärische Besetzung der Städte forderten, um ihre Läden zu schützen, inszenieren sich als WohltäterInnen. Für ihre Spenden bekommen sie großzügige Steuererleichterungen.

Die Unternehmen profitieren von der Katastrophe. Die große Apothekenkette Farmacias Ahumada hat die Preise für Beruhigungsmittel fast verdoppelt – in einer Situation, in der gerade ältere Menschen solche Medikamente dringend brauchen. Auch die Supermärkte und private Kliniken steigern ihre Preise drastisch.

Am 11. März übergab Präsidentin Bachelet ihr Mandat an den neuen, rechten Präsidenten Sebastian Piñera. Gibt es infolge des Erdbebens Spannungen zwischen SozialdemokratInnen und den Konservativen?

Nein, die Rechte machte unmittelbar nach dem Beben Druck für die Verhängung des Ausnahmezustands in den betroffenen Gebieten, und Bachelet erfüllte ihre Forderung gleich am nächsten Tag. Die Katastrophe hat dazu beigetragen, politische Spannungen, die sich unter der rechten Regierung hätten entwickeln können, zu beruhigen. Diese "Einheit" resultiert aus der Angst, dass die soziale Katastrophe nach dem Erdbeben größere soziale Kämpfe auslösen könnte.

Bachelet wurde von den Militärs kritisiert, weil sie erst am Tag nach dem Erdbeben den Ausnahmezustand ausrief. Welcher Konflikt steckt dahinter?

Das war in Wirklichkeit eine kleine Auseinandersetzung. Chiles "Demokratie" lebt seit Jahrzehnten mit den Militärs der Diktatur zusammen. In Einzelfällen wurde den FoltererInnen der Prozess gemacht, aber die überwiegende Mehrheit von ihnen läuft frei auf den Straßen herum.
Die Militärs wollen jetzt mehr politischen Protagonismus: wenn das Militär, das immer noch mit der Diktatur verbunden wird, durch die Katastrophe mehr Legitimität gewinnt, könnte es zu mehr repressiven Maßnahmen greifen – vor allem, weil Piñera jetzt Präsident ist.

Wie reagieren die Menschen auf Ausnahmezustand und Militärpatrouillen? Werden da nicht Erinnerungen an die Militärdiktatur wach?

Sicher. Aber die Militärpräsenz wird nicht grundlegend infrage gestellt. Die lautstarke Kampagne der Unternehmen gegen "PlünderInnen" blieb nicht ohne Wirkung und hat die Sehnsucht der Mittelschichten nach "Ordnung" geweckt.

Die arme Bevölkerung, die unter der Diktatur litt, duldet die Militärs. Doch nicht, weil sie mit dem Ausnahmezustand einverstanden ist, sondern weil sie keine andere Möglichkeit sieht, um an Lebensmittel heranzukommen. Keine größere Gewerkschaft oder linke Partei hat die Militärpräsenz abgelehnt. Sie glauben, dass das Militär – trotz all der Repression, die wir beobachtet haben – demokratisch agieren kann.

Wie reagiert die ArbeiterInnenbewegung und die Linke?

Viele ArbeiterInnen spenden einen Teil ihrer Löhnen für die Betroffenen. Doch die offiziellen Führungen kanalisieren all diese Hilfe durch die Regierung und die karitativen Institutionen der Kirche und der UnternehmerInnen. Sehr wenige Organisationen haben bis jetzt gesagt: "Militärs raus!" Aber ich sehe noch Möglichkeiten für eine wirkliche Solidarität von den ArbeiterInnen, unabhängig vom Militär und der Regierung.

//Interview: Wladek Flakin, Buenos Aires //Dieses Interview erschien in der Tageszeitung junge Welt vom 16. März 2010 und auch auf Indymedia.

 

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