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Ist die Chávez-Regierung in Venezuela sozialistisch?

Vortrag von REVOLUTION am 29. Februar 2008 in Berlin

1. Putsch / Fragestellung

Vor sechs Jahren, im April 2002, versuchte die Reaktion in Venezuela einen Militärputsch. Dieser Putsch stütze sich auf die rechte Opposition, die großen Medienkonzerne, die Kirche und die Offizierskaste. Die CIA war natürlich auch dabei.

Übrigens gibt es einen Witz in Lateinamerika: wisst ihr warum es noch nie einen Militärputsch in den USA gegeben hat? Weil es dort keine US-Botschaft gibt.

Hugo Chávez hat sich in den letzten sechs Jahren deutlich radikalisiert. Früher meinte er, gar kein Sozialist zu sein. Jetzt propagiert er den "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" für Venezuela.

In den neun Jahren, seitdem Chávez Präsident geworden ist, hat es viele konkrete Verbesserungen für die Massen in Venezuela gegeben (Chávez ist ja nicht von ungefähr so unheimlich populär unter den Armen). Diese Verbesserungen sehen wir unter anderem an der Halbierung der Armutsrate.

Aber wir müssen uns die Frage stellen: entsteht der Sozialismus in Venezuela?

2. Privateigentum

Chávez gilt in den Medien als eine "rote Gefahr", nach altem, antikommunistischem Vorbild. Aber hier möchte ich aus der Zeitschrift „New Yorker“ zitieren, und diese Zeitschrift steht wirklich über jeden Verdacht, antikapitalistische Sympathien zu haben. Sie schrieb über Venezuela: "Wenn das Sozialismus ist, dann ist es der unternehmerfreundlichste Sozialismus aller Zeiten." Sie verwiesen auf den wachsenden Handel zwischen Venezuela und den USA im letzten Jahr.

Denn: an den Grundlagen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung in Venezuela hat sich sehr wenig geändert. Die Ölindustrie ist zwar in staatlicher Hand, aber die Verstaatlichung fand im Jahr 1976, also 20 Jahre vor Chávez, statt. Die venezolanische Regierung hat die multinationalen Ölkonzerne gezwungen, Anteile an den staatlichen Ölkonzern PDVSA zu verkaufen – aber dafür haben die multinationalen Ölkonzerne großzügige Entschädigungen bekommen. Auch die so genannte "Verstaatlichung" des Telefonnetzes in Caracas war genau genommen ein einfacher Kaufvorgang: die Regierung zahlte den Marktpreis für das Unternehmen.

Momentan leidet die Bevölkerung Venezuelas an Lebensmittelknappheit.
Die Schuld für dieses Leiden trägt eindeutig die Bourgeoisie, und zwar in zweifacher Hinsicht: erstens durch das Horten von Lebensmitteln, um die Preise in die Höhe zu treiben. Zweitens durch den Großgrundbesitz in Venezuela, wodurch Millionen Hektar brachliegen oder ausschließlich für Viehzucht verwendet werden.

Auf diese Krise hat die venezolanische Regierung unzureichend reagiert. Preiskontrollen für Lebensmittel wurden angekündigt aber dann zurückgenommen. Chávez drohte mit der Enteignung der Lebensmittelkonzerne, aber daraus ist nichts geworden. Und bei der Verteilung des Großgrundbesitzes an landlose Bauern hat es in den letzten neun Jahren so gut wie keine Fortschritte gegeben. Es geht jetzt nicht um die einzelnen politischen Entscheidungen. Es geht um das Prinzip, das auch in der Verfassung festgeschrieben ist, dass das Privateigentum unantastbar ist. Chávez betont auch immer wieder, dass seine Regierung die Bourgeoisie nicht abschaffen und die Produktionsmittel nicht verstaatlichen will.

3. Bonapartismus

Nach der marxistischen Definition könnten wir sagen, dass die Chávez-Regierung "bürgerlich" ist, weil sie bürgerliche, kapitalistische Produktionsverhältnisse schützt und fördert. Gegen eine solche Einschätzung gibt es aber einen sehr einfachen Einwand: die große Mehrheit der venezolanischen Bourgeoisie ist gegen Chávez. Eine bürgerliche Regierung gegen die Bourgeoisie – das ist auf dem ersten Blick sehr widersprüchlich.

Aber das liegt in der Natur eines halbkolonialen Landes wie Venezuela: die Bourgeoisie ist schwach, komplett abhängig vom Imperialismus, und sie ist in dieser Position der Abhängigkeit ganz zufrieden (damit verdienen sie ihr Geld). Entsprechend wollen sie nichts ändern. In einer solchen Situation setzen sich oft Militärs an die Spitze, um eine größere Unabhängigkeit für ihr Land zu erringen, auch gegen den Widerstand der einheimischen Bourgeoisie.

Eine solche linke Regierung schwankt dann zwischen dem Imperialismus und den Massen. Sie stützt sich nicht ausschließlich auf eine der sozialen Klassen, sondern balanciert zwischen den sich bekämpfenden Klassen. Marx nannte eine solche Regierung "bonapartistisch", in Anlehnung an Louis Bonaparte in Frankreich.

Eine links-bonapartistische Regierung muss die Massen mobilisieren, um mehr Spielraum gegenüber dem Imperialismus zu gewinnen. Aber sie ändert überhaupt nichts an den Strukturen der Klassengesellschaft: die Macht bleibt bei der staatlichen Bürokratie, der Polizei, der Armee – die Massen werden mobilisiert, aber sie bekommen keine Macht, sie bekommen keine Waffen.

4. Beispiele

Und dieses Phänomen ist keineswegs neu, gerade in Lateinamerika nicht. Ich möchte sechs Beispiele kurz vorstellen, die Ähnlichkeiten mit der Chávez-Regierung aufweisen:

1. Lázaro Cárdenas, Präsident Mexikos 1934-1940 – er verstaatlichte die gesamte mexikanische Ölindustrie ohne Entschädigung und wurde deswegen u.a. von Großbritannien diplomatisch boykottiert (er ist auch beliebt unter TrotzkistInnen, weil er dem alten Trotzki Aysl gewährte, als dieser aus Europa rausgeworfen wurde...)

2. Juan Perón, Präsident Argentiniens 1946-1955, 1973-1974 - er verstaatlichte die Eisenbahn und schuf ein Außenhandelsmonopol, um die einheimische Industrie zu fördern - er baute auch Gewerkschaften auf, so dass sich die argentinische Gewerkschaftsbewegung bis heute "peronistisch" nennt.

3. Juan Velasco Alvarado, Präsident Perus 1968-1975 - er war Vorsitzender der "revolutionären Militärregierung" in Peru und verstaatlichte die Ölindustrie, er stützte sich stark auf die Sowjetunion

4. Juan José Torres, Präsident Boliviens 1970-1971 - er war wahrscheinlich der Radikalste von allen hier, er ersetzte das Parlament mit einer sowjet-ähnlichen "Volksversammlung" und bildete ein Bündnis mit den bolivianischen TrotzkistInnen

5. Salvador Allende, Präsident Chiles 1970-1973 - hoffentlich kennen wir ihn alle - er versprach die demokratische Einführung des Sozialismus in Chile

6. Daniel Ortega, Präsident Nicaraguas 1980-1990 und 2007- das Time-Magazin nannte ihn "The Man Who Makes Reagan See Red", als Guerillaführer gewann er einen 10jährigen Bürgerkrieg gegen die Diktatur, und installierte daraufhin eine Regierung zusammen mit "patriotischen" KapitalistInnen

Also: Was ist aus all diesen "Experimenten" geworden? Kurz zusammengefasst: (2) Putsch (3) Putsch (4) Putsch (5) Putsch (6) Ortega konnte seine Haut retten und regiert Nicarague jetzt wieder als knallharter Neoliberaler, mit einem ehemaligen Contra als Vize (1) Cárdenas stellt eine gewisse Ausnahme dar, weil er nach seiner ersten Amtszeit in Pension ging, d.h. erst seine Nachfolger entwickelten sich zu korrupten Diktatoren nach US-Gnaden.

Ich will keineswegs sagen, dass diese sechs Regierungen gleich waren – Perón war eher mit dem faschistischen Deutschland verbunden, Velasco mit der UdSSR. Aber sie weisen wichtige gemeinsame Merkmale auf: Erstens hatten sie eine Rhetorik, die links, antiimperialistisch, manchmal antikapitalistisch oder sogar sozialistisch war. Aber sie führten kaum sozialistische Maßnahmen durch. Ihr Programm beschränkte sich auf einige Verstaatlichungen durch einen bürgerlichen Staat.

Zweitens forderten sie die Massen auf, sich in Krisensituation "ruhig" zu verhalten und dem Staat zu vertrauen. Bekanntlich hat Allende selbst den General Pinochet zum Oberkommandierenden der chilenischen Streitkräfte berufen, weil dieser ein "besonders demokratischer" General sei. Pinochet, der sog. "Schützer der Verfassung", leitete dann zwanzig Jahre lang ein faschistisches Regime in Chile. Oder noch ein Beispiel: Zwei Monate, bevor Perón gestürzt wurde, gab es einen Putschversuch gegen ihn. Er mahnte die Bevölkerung zur Ruhe - sie sollten der "demokratischen Armee" weiterhin vertrauen. Einen Monat später wurde er von dieser demokratischen Armee ins Exil gezwungen. Oder noch ein Beispiel: Auch Torres weigerte sich, Waffen an die ArbeiterInnen Boliviens zu verteilen, weil die bolivianische Armee besonders "patriotisch" und "volksnah" sei. Diese Armee putsche wenige Wochen danach gegen ihn. Usw. usf.

Drittens versuchen solche Regierungen, die Massen zu mobilisieren, aber immer unter staatlicher Kontrolle. Einige von ihnen schufen staatliche Einheitsparteien und staatstreue Gewerkschaften: die Partei der Mexikanischen Revolution von Cárdenas, die Gerechtigkeits-Partei von Perón, usw. Damit verbunden war auch Repression gegen jene Teile der Arbeiterbewegung, die diese Einbindung verweigern. Die Repression gegen ArbeiterInnen in Venezuela ist im lateinamerikanischen Vergleich relativ gering, dennoch haben ArbeiterInnen, die Betriebe besetzt haben, den vollen Zorn der Staatsmacht zu spüren bekommen.

5. Aktuell in Venezuela

Dieses letzte Phänomen können wir jetzt auch in Venezuela gut beobachten. Eine bedeutende Strömung aus dem Gewerkschaftsdachverband UNT weigerte sich, die Verfassungsreform der Regierung zu unterstützen oder in die neue Regierungspartei PSUV einzutreten. Sie gründeten stattdessen die "Bewegung für den Aufbau einer Arbeiterpartei".

Deswegen wurde Orlando Chirino, eine Führungsfigur aus dieser Bewegung von seinem Job bei der PDVSA entlassen – übrigens ein klarer Verstoß gegen die bestehenden Arbeitsgesetze.

Vor einem Monat kam die Meldung, dass die Anklagen gegen 16 VerschwörerInnen vom Putschversuch im Jahr 2002 fallengelassen wurden. Gleichzeitig laufen Verfahren gegen ArbeiterInnen und GewerkschaftsaktivistInnen des Stahlwerkes SIDOR und der Keramikfabrik Sanitarios Maracay, weil sie Streiks organisiert haben.

Die Botschaft ist klar: Ein bewaffneter Aufstand im Auftrag des Imperialismus ist in Venezuela zu entschuldigen, aber eine eigenständige Mobilisierung der Arbeiterklasse geht gar nicht. (Die Formulierung ist etwas zugespitzt, aber im Endeffekt wahr.)

Anhand dieser Beispiele muss es klar sein, dass unsere Solidarität mit dem Prozess in Venezuela nur kritisch sein kann. Wir wollen nicht diese sechs Erfahrungen und die blutigen Konsequenzen wiederholen.

Die Mobilisierungen der ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen müssen weitergehen, d.h. weitergehen als Chávez und sein Staatsapparat selber wollen. Es geht darum, die Konzerne und Banken zu enteignen, den Großgrundbesitz unter der Bauernschaft zu verteilen, die Industrie unter die direkte Kontrolle der Arbeiterklasse zu stellen. Es geht darum, das stehende Heer mit einer Bewaffnung der Massen zu ersetzen, damit sie selbst in der Lage sind, sich gegen die Konterrevolution zu wehren.

Dieses Programm kann nicht von einem bürgerlichen Staat durchgeführt werden, sondern nur von einer Arbeiterregierung. Entscheidend ist, dass die ArbeiterInnen Venezuelas ihre eigene, unabhängige Partei haben, um den Kampf für die Zerschlagung des Staates und die Überwindung des Kapitalismus zu führen.

6. Schlussfolgerungen

Um auf die ursprüngliche Frage zurückzukommen: wie weiter nach dem Scheitern im Referendum?

Wir sind nicht der Meinung, dass die Massen den Sozialismus abgelehnt haben. Im Gegenteil glauben wir, dass Millionen Menschen von diesem Regierungsprojekt nicht begeistert waren, weil sie trotz der ständigen Reden über "Sozialismus" keine grundlegenden Wandel in ihrem Alltag wahrgenommen haben.

Wir müssen jetzt die Kräfte in Venezuela unterstützen, die eine Arbeiterpartei aufzubauen versuchen. Die Chávez-Regierung muss gegen jede Art von Reaktion verteidigt werden. Aber ArbeiterInnen müssen auch in der Lage sein, ihre eigenen Forderungen auch gegen die Chávez-Regierung durchzukämpfen. Denn die Lehre aller bisherigen Revolutionsversuche ist doch die: die Befreiung der Arbeiter kann nur das Werk der Arbeiter sein.

//Bericht von der Veranstaltung

//Broschüre "Wohin geht Venezuela?"

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