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Neta Golan, eine Israelin, die in Ramallah lebt, hat die International Solidarity Movement im Jahr 2001 mitgegründet. Sie war bei Yasser Arafat während der Belagerung des Präsidentenpalastes in Ramallah im Jahr 2002, und arbeitet als Medienkoordinatorin und Ausbilderin für die ISM.

"Um gewaltfreien Widerstand in Palästina zu unterstützen..."

Dieses Interview mit Neta Golan von der ISM erschien in gekürzter Form in der jungen Welt vom 30.11.05 und in der Neuen Internationale 106.

Was ist die International Solidarity Movement?

Die ISM wurde gegründet, um gewaltfreien Widerstand in Palästina zu unterstützen. Es ist eine gemeinsame Bewegung von PalästinenserInnen und Aktivisten aus dem Ausland, den sogenannten Internationalen. ISM steht aber unter palästinensischer Führung. Wir haben drei Grundprinzipien: erstens Gewaltfreiheit. Zweitens arbeiten wir in Gruppen. Wir nutzen das Konsens-Prinzip und haben so wenig Hierarchie wie möglich. Drittens sagen wir, dass wir als internationale AktivistInnen hier zu Gast sind. Wir wollen keine "kolonialen AktivistInnen" sein, die den PalästinenserInnen sagen, was sie zu tun haben. Es müssen die lokalen Ortsgemeinschaften sein, die entscheiden, welche Aktionen gemacht werden, denn sie müssen mit den Konsequenzen leben, und diese können furchtbar sein.

Unter welchen Bedingungen wurde die ISM gegründet?

Die ISM wurde mit der Al-Aqsa-Intifada im September 2000 geboren. Die israelische Armee (IDF) hat schon lange vor dieser Zeit auf unbewaffnete DemonstrantInnen geschossen. Aber als die ersten massiven, gewaltfreien Proteste begannen, hat die israelische Armee im Durchschnitt sieben Kinder am Tag getötet. Das Töten war systematisch. Zu der Zeit war ich mir sicher, dass die israelische Gesellschaft und die internationale Gemeinschaft empört reagieren würden und dass sie die israelische Regierung zum Rückzug zwingen würden. Deshalb habe ich im ersten Monat vor dem Büro des Premierministers in Jerusalem demonstriert.

Aber wenn du mir damals gesagt hättest, dass es innerhalb von fünf Jahren Normalzustand wäre, dass die Armee Kinder ermordet - na ja, dann ich hätte dir nicht geglaubt....

Nach einem Monat wurde klar, dass solches Vorgehen akzeptiert werden würde, wegen dem Rassismus gegen AraberInnen (man könnte es Antisemitismus nennen, denn AraberInnen sind SemitInnen) überall in der westlichen Welt. Wir wussten, dass es die Gewalt der Armee verhindern könnte, wenn Israelis und Internationale auf den Demos dabei wären.

Wie waren die ersten Aktionen der ISM?

Unsere erste große Aktion fand im Dezember 2000 im Dorf Bait Zahur in der Nähe von Bethlehem statt. Es gab eine Demo der palästinensischen DorfbewohnerInnen zusammen mit internationalen und israelischen AktivistInnen zur Militärbasis Shidma, die auf dem Land von Bait Zahur gebaut wurde. Zu dieser Zeit hat die IDF das Dorf mit Artillerie bombardiert und hunderte Häuser beschädigt oder zerstört. Es gab ununterbrochen Gefechte zwischen israelischen Soldaten und palästinensischen Kämpfern. Wir marschierten zur Basis mit einem Brief an die Soldaten, der sie aufgefordert hat, nach Hause zu fahren. Denn sie wussten, dass sie niemanden verteidigt hatten: es gab keine israelischen ZivilistInnen in der Gegend.

Die Armee wusste, dass die PalästinenserInnen zu viel Angst hatten, um in die Nähe der Basis zu kommen. Am Eingang war kein einziger Wächter. Nachdem wir die Tore erreicht hatten und eine Zeit lang Sprechchöre gerufen haben, sind wir einfach hinein spaziert. 300 Personen, hauptsächlich PalästinenserInnen, standen mitten in einer IDF-Basis. Als die Soldaten kamen und uns entgegentraten, haben wir den Brief verlesen. Sie wussten im ersten Moment nicht, was sie tun sollten, weil Israelis und Internationale an der Spitze der Demo waren. Wären es nur PalästinenserInnen gewesen, so hätten sie gewusst, was sie tun sollten. Sie hätten das Feuer eröffnet. Bevor wir wieder gegangen sind, hat ein französischer ISM-Aktivist auf Bitte eines Dorfkindes eine palästinensische Fahne auf den Wachturm gesetzt, als Symbol der Wiedereroberung des Landes.

Was sind die wichtigsten Aktivitäten der ISM im Moment?

Bei uns laufen mehrere Projekte parallel. Ein zentraler Bereich ist die Unterstützung des Widerstandes gegen die Annexions-Barriere, die Mauern und Zäune, die rund um die West Bank gebaut werden. Wir konzentrieren uns auf das Dorf Bilin bei Ramallah, wo der Widerstand sehr dauerhaft ist, mit einer Demo jeden Freitag seit zehn Monaten.

Jedes Jahr versuchen wir, die Olivenernte zu unterstützen. Dieses Jahr arbeiten wir hauptsächlich in der Stadt Nablus. Zusammen mit israelischen Gruppen wie "Rabbiner für Menschenrechte" oder "Anarchisten gegen die Mauer" gehen wir auf die Felder und pflücken Oliven in Gebieten, die von den Siedlern bedroht werden.

Wir stellen auch RednerInnen für Informations-Rundreisen. Mohammend Khatib vom Volkswiderstandskomitee gegen die Mauer in Bilin ist gerade in Frankreich und wird dort und in Frankreich 40 Tage lang Vorträge halten. Momentan findet auch eine Rundreise durch Amerika mit dem israelischen Anarchisten Yonatan Pollack statt, die von ISA USA organisiert wird.

Hebron in der südlichen West Bank scheint besonders viele Konflikte zu haben. Was macht die ISM dort?

Wir haben zwei Projekte in der Gegend von Hebron. Eins ist in Tel Rumeida, ein Viertel in der Altstadt Hebrons, wo PalästinenserInnen neben israelischen Siedlern unter Apartheid-Bedingungen leben. Zum Beispiel können die PalästinenserInnen zentrale Strassen nicht benutzen, weil diese für die Siedler reserviert sind. Palästinensische Kinder werden auf dem Weg zur Schule von jungen Siedlern mit Steinen beworfen oder auf anderer Art angegriffen. Internationale AktivistInnen der ISM begleiten diese Kinder jeden Tag zur Schule. Für die PalästinenserInnen bedeutet Widerstand, in Hebron zu bleiben.

Das andere Projekt ist in einem Ort mit dem Namen Qawawis. Es ist Land, das palästinensischen Familien gehört, die Schäfer sind. Sie haben ein Haus, das vor 1948 gebaut wurde. Wenn sie irgendwas zu bauen versuchen, selbst einen Stall für ihre Schafe, bekommen sie sofort eine Meldung von der Zivilen Administration (die israelische Verwaltung in den besetzten Gebieten), dass die IDF das Gebäude niederreißen wird, wenn sie das nicht selbst tun. Also leben sie in Höhlen, umgeben von "illegalen Siedlungen". Dieser Begriff ist etwas verwirrend, denn nach dem internationalen Gesetz sind alle israelischen Siedlungen illegal. Aber diese Vorposten sind selbst unter dem israelischen Gesetz illegal, denn sie wurden von der Regierung nicht genehmigt. Aber selbst wenn sie nicht offiziell genehmigt sind, bekommen sie viel inoffizielle Unterstützung: militärischen Schutz, Strom, Wasser.

Die Siedler in Hebron sind religiöse Extremisten, mit messianischem Glauben, dass es ihre heilige Mission ist, das ganze Land Großisrael zu retten, indem sie alle AraberInnen vertreiben.

Vor kurzem hat die israelische Armee vier ISM-AktivistInnen aus Hebron rausgeworfen. Wie kam es dazu?

Vor wenigen Tagen haben Soldaten diese Aktivisten grundlos festgenommen. Sie haben die Polizei angerufen, die sie wiederum ohne Anklage verhaftet hat. Nach 24 Stunden (dem gesetzlichen Maximum) wurden sie einem Richter vorgeführt, der die Polizei dafür tadelte, dass sie diese Aktivisten ohne gesetzliche Grundlage oder überhaupt einen guten Grund festgehalten habe. Aber weil die Gegend so sensibel ist, hat er sie unter der Bedingung freigelassen, dass sie in den nächsten 10 Tagen nicht nach Hebron zurückkehren und an keiner politischen Demonstration teilnehmen. Das hat nichts mit Sicherheit zu tun, dass ist politische Verfolgung.

Gestern hat eine palästinensische Familie in der Nähe von Hebron versucht, Oliven auf ihrem Land zu pflücken. Das ist unweit von einer Siedlung. Sie wurden von Siedlern angegriffen, und als sie die Polizei angerufen haben, wurden sie verhaftet. Einige palästinensische ISM-AktivistInnen wurden ebenfalls verhaftet.

Wie kommen die ISM und andere Anti-Besatzungsgruppen in der israelischen Gesellschaft an?

Das kann ich nicht genau beantworten, weil ich jetzt in Palästina lebe. Aber ich kann sagen, dass es eine andauernde Diffamierungskampagne gibt, sowohl vom Außenamt (das wir nicht wegen Beleidigung verklagen dürfen) wie von rechtsextremen Siedlergruppen wie "Stoppt die ISM". Sie verbreiten die unglaublichsten Lügen. Über mich wurden wahnsinnige Sachen geschrieben, z.B. dass ich mein ganzes leben in einer Psychoklinik verbracht hätte. Jetzt, Jahre danach, werde ich immer noch gefragt, wie ich Aktivistin werden konnte...

Aber so bald sie herausgefunden haben, dass ich mit einem Palästinenser aus Nablus verheiratet bin, den sie als Fatah-Aktivist bezeichnet haben (was nicht stimmt), war in ihren Augen jeder andere Beweis für Verrücktheit überflüssig.

Wie reagieren PalästinenserInnen auf die ISM, da viele AktivistInnen jüdischer Herkunft sind?

Ich schätze, dass etwa 20% der AKtivistInnen jüdisch sind, aus den USA, Kanada und anderen Ländern. Die palästinensische Gemeinschaften akzeptieren sie mit offenen Armen. Natürlich gibt es palästinensische Rassisten, denen ich als Jüdin in der West Bank begegne. Aber es ist so viel seltener als der anti-arabische Rassismus in Israel - hier ist es eine Ausnahme, dort ist es die Regel.

Selbst die Hamas hat mich und andere jüdische AktivistInnen in ihre Häuser eingeladen. In Bilin habe ich gesehen, wie Hamas- und israelische AktivistInnen Seite an Seite demonstrierten. Wenn Israelis verwundet werden, sind es Hamas-Jugendliche, die ihnen zu Hilfe kommt. Nur weil die Menschen hier gegen die Besatzung sind, heißt das nicht, dass sie nicht differenzieren können zwischen Juden/JüdInnen und Israelis, zwischen Zionisten und FriedensaktivistInnen.

Wo wir arbeiten, fragen wir die Ortsgemeinschaften, ob es ihnen recht ist, wenn Israelis bei den Aktionen mitmachen, und in manchen Orten wie Nablus-Stadt wollen sie das nicht. Aber in all den Jahren hat noch nie eine Gemeinschaft gesagt, dass sie keine jüdische AktivistInnen dabei haben wollen.

In Nablus gibt es eine Gemeinschaft von SamariterInnen und die PalästinenserInnen betrachten sie als jüdisch. Sie sind Nachkommen der Israeliten, deshalb ist ihre Religion dem Judaismus sehr ähnlich: sie sprechen Althebräisch und halten den Schabat. Der Punkt ist, in Nablus sind sie Teil der Gemeinschaft, es gibt keinen allgemeinen Hass gegen Juden/Jüdinnen. Vor 1984, bevor der Zionismus die PalästinenserInnen bedroht hat, hatte es schon immer jüdische Menschen in der arabischen Welt gegeben. Ihre Situation war unvergleichlich besser als die der Juden/Jüdinnen in Europa. Laut dem Koran haben christliche und jüdische Menschen unter einem muslimischen Regime besondere Rechte. Es muss ihnen gestattet sein, ihre Religion auszuüben. Wenn man Spanien anguckt, waren die goldene Zeit der Juden/Jüdinnen die Jahrhunderte muslimischer Herrschaft. Sobald die ChristInnen an die Macht kamen, wurden die Juden/Jüdinnen abgeschoben.

Der Konflikt hier wird oft als eine Art jahrtausende alter religiöser Konflikt dargestellt. Aber ich kann sagen, auf der palästinensischen Seite gibt es keine religiöse sondern eine anti-koloniale Agenda.

Wie reagiert ihr auf die Vorwürfe, ihr würdet terroristische Gruppen oder Aktionen unterstützen?

Wir antworten mit der Wahrheit - und das ist unsere Stärke. Aber alles, was hier passiert, wird von der israelischen Armee als Terrorismus bezeichnet. Als der britische Fotograf Tom Hurndall von Soldaten in Gaza erschossen wurde, hieß es in der ersten Erklärung der Armee, er hätte eine Tarnuniform und eine Waffe getragen. Dann hieß es, er hätte neben einem palästinensischen Kämpfer gestanden. Die Wahrheit ist, eine Gruppe Soldaten hat auf drei Kinder an einer Straßensperre geschossen, und Tom wollte sie aus der Schusslinie holen.

Oder nehmen wir den Fall von Rachel Corrie: eine weit verbreitete Lüge ist die, dass es im Haus, das sie beschützt hat, einen Tunnel gab, mit dem Waffen aus Ägypten geschmuggelt wurden. Aber jeder, der in dem Gebiet schon mal war, weiß, dass die IDF eine Pufferzone um die Grenze Gaza-Ägypten schaffen wollte, und zu diesem Zweck ganze Reihen von Häusern zerstörte. Rachel wurde von einem Bulldozer überfahren. Die Armee behauptete zuerst, der Fahrer hätte sie nicht gesehen - obwohl sie eine orangene Weste trug und ihm mit einem Megafon zugerufen hat! Dann haben sie gesagt, sie wurde zerquetscht, als ein Teil des Hauses über sie einstürzte. Die Armee hat eine "interne Untersuchung" für die Medien angeordnet und es gab keine strafrechtliche Untersuchung. Nachdem sie signalisiert hatten, dass es keine Folgen gibt, wenn man Internationale erschießt, gab es eine ganze Reihe von solchen Fällen; ISM-AktivistInnen, UN-MitarbeiterInnen und Journalisten wurden angeschossen und manche davon tödlich. Das einzige, was diese Welle aufgehalten hat, war der Prozess gegen den Soldaten, der Tom erschossen hat. Wegen dem internationalen Druck musste eine strafrechtliche Untersuchung eröffnet werden. Vor dem Prozess hat die IDF die ganze Gegend platt gemacht, um alle Beweismaterialien zu zerstören. Der Soldat wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt - aber das passierte nur, weil er Beduine ist, einer arabischen Nationalität angehört, die in Israel lebt und unter Diskriminierung leidet. Während der ersten Woche der Intifada wurden 13 arabische Israelis auf israelischem Territorium erschossen. Das sind israelische Staatsbürger in ihrem eigenen Land, die wegen ihrer ethnischen Herkunft erschossen werden. Die Armee hatte eine interne Untersuchung, sie blieb aber ergebnislos. Aber seither sind 17 weitere arabische Israelis erschossen worden, und es gibt nicht mal eine Untersuchung.

Was können Leute, die in anderen Teilen der Welt leben tun, um euch zu unterstützen?

Ich möchte Leute einladen, hierher zu kommen und die Situation mit eigenen Augen anzugucken. Ich weiß, es ist verwirrend, wenn jede einzelne Geschichte in zwei völlig unterschiedlichen Versionen erscheint. Deshalb lade ich ein, bitte ich, flehe ich, dass die Menschen hierher kommen und selbst die Realität der besetzten palästinensischen Gebiete angucken.

//Interview: Wladek Flakin //this interview in English

 

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