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Zum Klassencharakter der Studierendenschaft

Studierende können aus den unterschiedlichsten Familien kommen, ihre Herkunft kann aus den unterschiedlichsten sozialen Klassen stammen und dementsprechend vertreten sie auch die unterschiedlichsten Interessen: „Studenten stellen keine eigene und einheitliche soziale Klasse dar. Sie sind in verschiedene Gruppen unterteilt, und ihre politische Haltung entspricht genau der derjenigen, die in diesen unterschiedlichen Gruppen innerhalb der Gesellschaft dominiert.“ [1]

Jedoch ist der kleine Teil der Gesamtbevölkerung (in Deutschland etwa 23%), der Zugang zu höherer Bildung erlangt, klar sozial strukturiert. In Deutschland bedeutet das selektive Schulsystem und die elitäre Ausrichtung der Hochschulzugangsberechtigungen, dass die bürgerliche Universität nicht für „alle“ geschaffen ist und Wissen nicht im Sinne der Gesamtgesellschaft produziert wird. Vielmehr ist die Universität Ausbildungsort für einen Ausschnitt der Eliten des Landes, die sich in ihrer universitären Zeit hauptsächlich darauf vorbereiten sollen, wichtige Funktionen für die herrschende Klasse auszuüben oder sogar tragende Rollen der Klassenherrschaft zu übernehmen.

So stammen aktuell in Deutschland nur 10% der Studierendenschaft aus ArbeiterInnenfamilien. Interessant ist dabei, dass studentische MitarbeiterInnen an den Universitäten fast nie (1%) aus ArbeiterInnenfamilien stammen [2]. Ähnlich oder schlimmer noch ist die soziale Auslese, die Jugendliche mit Migrationshintergrund betrifft, denn sie stellen nur 8% der Studierendenschaft [3]. Die meisten Studierenden stammen aus „Beamtenfamilien mit akademischem Abschluss“ und „Selbständigen mit akademischen Abschluss“ [4], also dem gehobenen Kleinbürgertum und der Bourgeoisie.

Doch die Studienzeit ist eine Übergangsphase. Dies bedeutet, dass die Klassenherkunft der Studierendenschaft, also die Klassenzugehörigkeit ihrer Eltern, nicht zwangsläufig identisch mit ihrer Klassenzukunft ausfallen muss. So können, wie es gerade in der BRD des Nachkriegsbooms der Fall war, untere Schichten durch die universitäre Bildung höhere Stellen im gesellschaftlichen System beziehen. Angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise, dem Angriff auf die sozialen Systeme des „Wohlfahrtsstaates“ und die drastische Auslese durch den Bologna-Plan ist heutzutage jedoch eher das umgekehrte Szenario Realität: Immer größere Teile der Jugend der Mittelschichten, die Kinder vor allem des gehobenen Kleinbürgertums, sehen sich nach ihrer Ausbildung mit sehr prekären Arbeits- und Lebensbedingungen konfrontiert. Gerade die Sorge um diesen sozialen Abstieg hatte auch zu der Breite der Bildungsstreikproteste geführt, wie wir in diesem Heft darstellen.

Somit können wir feststellen, dass während dieser Übergangsphase „Studi sein“ sowohl die soziale Situation als auch die Interessenlage sich schwankend zwischen der obersten und untersten Klasse unserer Gesellschaft verortet. Wir sehen die Abwehr gegen die Maßnahmen der Regierungen, die Universität immer weiter im Interesse der Bourgeoisien umzustrukturieren. Auch außerhalb der Bildungsstreikbewegung existieren an den deutschen Universitäten vielfältige Räume der Kritik, die die herrschenden Ideologien teilweise in Frage stellen. Gleichzeitig sehen wir jedoch auch ein großes Bestreben (auch unter denjenigen, die am Protest teilnehmen), die „individuellen Chancen“ zu erhöhen und für sich die bestmögliche Studien- und somit gesellschaftliche Situation zu ergattern. Dieses Schwanken verdeutlicht, dass der Großteil der Studierendenschaft einen kleinbürgerlichen Charakter trägt.

Mit dem Begriff Kleinbürgertum meinen MarxistInnen nicht nur diejenigen, die kleine Mengen an Produktionsmitteln besitzen, sondern alle gesellschaftlichen Schichten, die sich zwischen den beiden Hauptklassen Bourgeoisie und Proletariat befinden. Das Kleinbürgertum verfügt deswegen über keinen festen Klassenstandpunkt, weshalb es sich jedoch oft der herrschenden Klasse anpasst. So ist „in der Epoche von Aufstieg, Wachstum und Blüte des Kapitalismus das Kleinbürgertum trotz heftiger Ausbrüche von Unzufriedenheit im großen und ganzen gehorsam im kapitalistischen Gespann.“ [5] Daraus leiten wir ab, dass in seiner Mehrheit die Studierendenschaft, trotz kritischer Ansätze, weder das Bildungssystem noch die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend in Frage stellt.

Die kleinbürgerlichen Illusionen drücken sich auch gerade auf ideologischer Ebene aus: Im Bildungsstreik, aber auch in anderen kritischen Räumen an den Universitäten, dominiert meist ein individuelles Streben nach Freiheit und Selbstbestimmung, dass sehr dem Humboldtschen Bildungsideal anhängt. So sollte die „akademische Freiheit“ und die universitäre Unabhängigkeit vom Staat die Selbstbestimmung und vernünftige Mündigkeit der Individuen garantieren. Humboldt spricht jedoch von diesen freien Individuen aus bürgerlich-liberaler Perspektive, d.h. aus der Sicht des privaten Menschen, der auf der Suche nach der Verwirklichung seines persönlichen (und auch finanziellen) Interesses ist. Karl Marx kritisierte zu Recht dieses Ideal der bürgerlichen Bildung, das ohne Berücksichtigung der Schwierigkeiten und Entbehrungen der arbeitenden Mehrheit der Bevölkerung propagiert wird und die oben dargestellte soziale Auslese in Bildungseinrichtungen ignoriert.

Die ideologische Ausrichtung vieler Studierender ist jedoch nicht für alle Zeit festgeschrieben. Da wir uns jedoch heute in einer historischen Krise des Kapitalismus befinden, in der der Unmut unter breiteren Teilen der Studierendenschaft gegenüber den Sparmaßnahmen und Umstrukturierungsplänen ansteigt, setzten wir uns als RevolutionärInnen dafür ein, dass Studierende einen Sprung machen um sich von diesen Illusionen befreien, denn: „Unter den Bedingungen der kapitalistischen Fäulnis und wirtschaftlichen Ausweglosigkeit aber versucht die Kleinbourgeoisie, sich den Fesseln der alten Herren und Meister der Gesellschaft zu entwinden. Sie ist durchaus fähig, ihr Schicksal mit dem des Proletariats zu verknüpfen.“ [6]

In diesem Sinne ist es den Studierenden, gleichwohl dem Kleinbürgertum und den Intellektuellen, durchaus möglich, sich von „den Fesseln der alten Herren und Meister der Gesellschaft“ zu befreien, indem sie als ersten Schritt die Einheit mit Kämpfen der ArbeiterInnen suchen und sich somit dem Proletariat annähern. Wie ein griechischer Student in Berlin erklärte, an jene Mehrheit der Studierenden gerichtet, die später nicht zur Elite gehören werden: „Wir müssen uns als Teil der ArbeiterInnenklasse sehen. Wir müssen jetzt schon versuchen, mit ArbeiterInnen zusammen zu kämpfen und zu streiken.“ [7]

//aus der Broschüre "Der Bildungsstreik"

 

Fußnoten:

1. Leo Trotzki: An die Studenten und Intellektuellen. 1932.

2. 19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks vom Jahr 2009.

3. Frank van Bebber: Stiftungen wollen mehr Migranten an die Unis bringen. ZEIT Online. 18. Februar 2010.

4. Sigrid Beer: Soziale Benachteiligung im Bildungssystem verfestigt sich.

5. Leo Trotzki: Der einzige Weg. Kapitel 2: Bourgeoisie, Kleinbürgertum und Proletariat. 1932.

6. Ebd.

7. Interview mit Dimitrios X.

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